Manfred Gerstenfeld (direkt vom Autor)
Mit dem anstehenden Yom HaSchoah wird regelmäßig eine fundamentale Frage gestellt: Wie relevant wird der Holocaust in einer Gesellschaft sein, in der einmal fast alle verbliebenen Zeugen – heute hauptsächlich solche, die als Kinder überlebten – verstorben sind? Elie Wiesel sagte, dadurch, dass die zweite Generation den Aussagen der Zeugen zuhört, wird sie zu Zeugen werden.[1] Das wirft eine weitere Frage auf: Sind einige Erinnerungen eines als Kind Überlebenden tatsächlich Erfahrungen, die sie durchlebten oder Dinge die sie hörten?
Der Fall der Holocaust-Zeugnisse wird noch aktueller, weil die Verwendung „Hitler“ oder „Nazi“ als Beleidigung zunehmend üblich wird. Solche Beleidigungen, um Aufmerksamkeit zu erregen, sind heute populär und werden sogar von nationalen Führungspersönlichkeiten verwendet. Drei mexikanische Präsidenten, einschließlich des aktuellen, Enrique Pena Nieto, verglichen Trump mit Hitler.[2]
Auf staatlicher Ebene ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan der Hauptverwender solcher Beleidigungen. Er behauptet, er wisse nicht, ob Israel oder Hitler barbarischer seien.[3] Erdoğan hat auch die Niederlande als Naziüberbleibsel bezeichnet.[4] Er verwendet falsche moralischer Äquivalenz derart regelmäßig, dass der Atlantic Erdoğan-Äußerungen dieser Art einen ganzen Artikel widmete.[5]
Aber wenn alle Aspekte dessen, was man „das Frage der Überlebenden“ nennen könnte, diskutiert werden, müssen außer der oben angeführten viele weitere Fragen gestellt werden. Zum Beispiel, welche zusätzlichen wichtigen Informationen Überlebende immer noch bieten können und in welchen Bereichen.
Zu den Antworten gehören Erinnerungen an die Aufnahme der Überlebenden, die sie bei der Rückkehr in die Gesellschaften erlebten, aus denen sie flohen oder deportiert wurden. Es ist viel zu den meist extrem negativen Ereignissen geschrieben worden. Am bekanntesten ist das Pogrom von Kielce in Polen 1946, als polnische Soldaten und Polizisten 42 Juden töteten und 40 verletzten.[6] Es gibt jede Menge mehr, viele davon negativ, aber auch eine beträchtliche Anzahl positiver Erfahrungen.
Eine weitere wichtige Frage betrifft die Migration nach dem Krieg. Zu den großen Fragen für Überlebende gehörte, ob man versuchen sollte dahin zurückzukehren, wo man vor der Verfolgung lebte oder woanders neu anzufangen. Die Hilfe einiger amerikanischer Militärrabbiner und anderer, die bei illegaler Immigration nach Palästina halfen, ist ein interessanter Aspekt der Nachkriegs-Migration, von der viel mehr berichtet werden muss.
Ein weiteres mit den Überlebenden zusammenhängendes Thema von Bedeutung ist die Wiedergründung jüdischer Gemeinden und verschiedener Organisationen in den ehemals besetzten Gebieten. Das ist oft eine Geschichte unglaublichen Durchhaltevermögens. Ein Teil meiner Recherchen berührt ein kleines Gebiet, nämlich die Gründung jüdischer Nachkriegs-Jugendbewegungen in den Niederlanden. Mit der Aufzeichnung ihrer Geschichten erhält man einen Einblick in die Unverwüstlichkeit der jungen Leute, die aus ihren Verstecken kamen oder sogar aus den Lagern zurückkehrten. Zusätzlich ist die Rolle von Soldaten der Jüdischen Brigade in den ersten Nachkriegsmonaten erinnerungswert. Die erste Beschneidung in den Nachkriegsmonaten in den Niederlanden wurde von einem amerikanischen Rabbiner durchgeführt.[7] Zudem ist dokumentiert worden, dass amerikanische Militärrabbiner in einigen französischen Städten bei der Wiedergründung von Gemeinden halfen.[8]
Die Bemühungen von Überlebenden ihe gestohlenes Eigentum zurückzubekommen ist ein weiteres Thema, zu dem viel mehr persönliche Erfahrungen aufgezeichnet werden müssen. Bis zu einem gewissen Umfang wurde für Leiden während des Krieges Geldleistungen erbracht. Deutsche Zahlungen spielen eine dominierende Rolle, aber es gibt viele weitere Fälle von Rückerstattung. 2014 stimmte die französische Eisenbahn der Zahlung von 60 Millionen Dollar an Überlebende, die in deutsche Konzentrationslager transportiert wurden, zu.[9] Mehr als siebzig Jahre nach dem Krieg ist das Thema Entschädigung noch nicht abgeschlossen, vor allem in Osteuropa.
Es ist vorgeschlagen worden die Erfahrungen versteckter Kinder, die nach dem Krieg zwischen ihren Pflegeeltern und ihren echten Eltern pendelten, als Vorläufer von Erfahrungen in zeitgenössischen Gesellschaften zu betrachten.[10] Die komplexen Beziehungen von Kindern geschiedener Eltern und von Stiefeltern ist für viele zu einer Lebenserfahrung geworden.
Auch wie Holocaust-Überlebende mit ihren Kriegserfahrungen fertig wurden, kann denen dienen, die andere Völkermorde überlebt haben. Ein Treffen von Überlebenden der Morde in Ruanda vor zwanzig Jahren bleibt unvergesslich. Sie rangen mit vielen Fragen, die Holocaust-Überlebende gut kennen. Einige der Realitäten der Überlebenden in Ruanda sind sogar noch schlimmer: Sie leben in Dörfern quasi Tür an Tür mit den Mördern ihrer Familien.
Eine ganz andere Reihe Fragen betrifft medizinische, psychologische und soziale Aspekte. Bestimmte Krankheiten gibt es bei Holocaust-Überlebenden öfter als bei anderen Gruppen. Heute weiß man, dass es bei ihnen wahrscheinlicher ist, dass sie Osteoporose, Zahnprobleme, Sehbehinderungen und Herzprobleme haben, Folgen andauernder Mangelernährung in der Kindheit und als junge Erwachsene.[11]
Es gibt eine Notwendigkeit weiterer Forschung zu Übertragung der Traumata von Holocaust-Überlebenden an die nächste Generation.[12] Im Bereich der Epigenetik sollen einige Kinder von Überlebenden ausgeprägte Veränderungen ihrer Chromosomen zeigen, die das Ergebnis der Erfahrungen und Traumata ihrer Eltern sind.[13] Das Thema der epigenetischen Übertragung bleibt umstritten.
Es gibt noch viele weitere potenzielle Forschungsprojekte. Eines hat mit dem Beitrag der Überlebenden zu ihren Nachkriegsgesellschaften zu tun. Andere sollten sich mit der Geschichte und Rolle von Organisationen beschäftigen, die Überlebenden halfen. In Begriffen akademischer Debatte zu dem, was die größte Auswirkung auf das Leben einer Person, d.h. Erbanlagen oder Lebenserfahrungen usw. hat, ist Erfahrung für Holocaust-Überlebende in der Regel der dominierende Faktor gewesen.
All das oben Angeführte und mehr deutet darauf hin, dass eine allumfassend breite Analyse von Themen betreffs der Überlebenden unternommen werden muss. Und das sollte deutlich vor der Zeit gemacht werden, in der sie nicht mehr unter uns sind.
[1] http://www.nytimes.com/2000/01/17/us/the-second-generation-reflects-on-the-holocaust.html
[2] http://www.reuters.com/article/us-usa-canada-pena-nieto-idUSKCN0ZF2JD
[3] http://www.independent.co.uk/news/world/middle-east/erdogan-turkish-president-israel-hitler-more-barbarous-gaza-interview-palestinians-decide-holocaust-a7431311.html
[4] http://www.telegraph.co.uk/news/2017/03/11/erdogan-calls-dutch-fascists-row-turkey-netherlands-escalates/
[5] http://www.theatlantic.com/news/archive/2017/03/turkey-erdogan-nazis/519528/
[6] http://www.ushmm.org/wlc/en/article.php?ModuleId=10007941
[7] Persönliche Kommunikation mit Rafael Medoff
[8] Françoise S. Ouzan/Manfred Gerstenfeld (Hg.): Postwar Jewish Displacement and Rebirth 1945-1947. Leiden/Boston (Brill) 2014), S. 112-136.
[9] http://www.bbc.com/news/world-europe-30351196
[10] Diane L. Wolf, Beyond Anne Fank, Hidden Children and Postwar Families in Holland, (Berkeley: University of California Press, 2007), 336.
[11] http://www.socialworktoday.com/archive/012113p8.shtml
[12] https://yadvashem.org/yv/en/education/languages/dutch/pdf/kellermann.pdf