Ein Problem des deutschen Mainstreams

Nach Halle zeigen manche Kommentatoren schnell mit dem Finger auf diejenigen, die über die Gefahr des Antisemitismus von Links und durch islamistische Kräften sprechen.

Mark Neugroschel, Jerusalem Post, 16. Oktober 2019

Menschen stellen Kerzen auf, um der zwei Personen zugedenken, die in Halle durch Schüsse getötet wurden (Foto: Hannibal Hanschke/Reuters)

Direkt nach Berichten über den Anschlag auf die Synagoge in Halle an Yom Kippur durch einen Rechtsextremisten begannen die Medien zahlreiche Mahnwachen und Kundgebungen zur Unterstützung der jüdischen Gemeinde herauszuheben, die überall in Deutschland als Reaktion auf den Anschlag veranstaltet wurden.

Bemerkenswerterweise gab es solche Mahnwachen nach einem Angriff auf die Berliner Synagoge nur ein paar Tage zuvor nicht, den ein 23-jähriger Mann syrischer Herkunft verübte, der ein Messer schwang und „Allahu akbar“ sowie „Fuck Israel“ brüllte. Sicher erklärt die Tatsache, dass in Halle zwei Menschen ihr Leben verloren, während der Täter in Berlin festgenommen werden konnte, bevor er ernsthaften Schaden anrichten konnte, eine Menge der Unterschiede in den öffentlichen Reaktionen auf die beiden Anschläge. Dennoch gibt es eine gewaltige Diskrepanz zwischen den strengen und einhelligen Verurteilungen rechter Gewalt, die jetzt von allen Seiten zu hören ist, und der zaghaften, marginalisierten und manchmal sogar rechtfertigenden Reaktionen auf antisemitische Anschläge durch Täter mit einem politisch linken und/oder islamistischen Hintergrund.

Das Urteil eines deutschen Gerichts, wonach ein Brandanschlag auf eine Synagoge in Wuppertal im Jahr 2014 keine antisemitische Tat war, sondern ein Protest gegen israelische Politik, ist diesbezüglich idiomatisch. Ein weiteres typisches Beispiel ist der Widerwille deutscher Behörden gegen die antisemitischen Al-Quds-Demonstrationen der Hisbollah vorzugehen. Erst vor ein paar Wochen propagierte der SPIEGEL antisemitische Fantasien von einer jüdischen Verschwörung in einem Artikel, der die Zustimmung des Bundestags zu einem Anti-BDS-Beschluss (BDS = Boykott, De-Investition, Sanktionen) als Ergebnis einer jüdischen Manipulation darstellt. Jetzt bringt das Magazin in seiner aktuellen Ausgabe zwei lange Artikel zu Antisemitismus und rechtem Terrorismus.

Nach Halle waren einige Kommentatoren schnell dabei mit dem Finger auf die zu zeigen, die von der Gefahr des Antisemitismus von Linken und von islamistischen Kräften sprechen, um zu sagen: „Seht her, wir haben es ja gesagt. Es sind die Rechten.“ Ein Kommentator in einer deutschen Lokalzeitung benutzte den Anschlag in Halle zynisch als Alibi, um die Bedeutung des muslimischen Antisemitismus zu bestreiten, während er israelbezogenen Antisemitismus als abwegigen Vorwurf entstellte, der zur Sabotage legitimer Kritik an israelischer Politik entworfen sei.

„Für Antisemitismus sind Migranten und Muslime verantwortlich gemacht worden. Die Zunahme des Antisemitismus ist auch als Vorwurf gegen Kritiker israelischer Politik gegenüber den Palästinensern benutzt worden. Aber Halle machte klar: Die tödliche Gefahr für jüdisches Leben in Deutschland geht immer noch von den Rechten aus“, schreibt Joachim Zinsen von den Aachener Nachrichten.[1]

Es gibt keine Zweifel, dass der Angreifer von Halle rechtsextrem ist. Und es gibt keine Zweifel, dass die Gefahr von Rechts ernst genommen werden muss. Aber diese rechtsradikalen Anschlag in Halle als Vorwand zu nehmen, um andere Formen des Antisemitismus zu marginalisieren, ist zynisch und ein Schlag ins Gesicht der Opfer von Halle und all derer, gegen die sich dieser Anschlag richtete.

Viele Sprachbilder des israelbezogenen Antisemitismus, die Judenhass bei Muslimen und Linkradikalen stützen, werden von beträchtlichen Teilen des gesellschaftlichen Mainstreams in Europa geteilt. Der furchbare Anschlag von Halle durch einen Rechtsextremen bieten vielen Mitgliedern dieses Mainstreams ein bequemes Alibi, ihren eigenen Antisemitismus zu bestreiten und für Judenhass ausschließlich radikale “Andere“ verantwortlich zu machen.

Viele derer, die heutzutage auf der deutschen Straße gegen Antisemitismus demonstrieren, waren von ernsten Motiven und der ehrlichen Absicht bewegt Solidarität mit Deutschlands jüdischer Gemeinschaft zu zeigen. Aber das Ausmaß dieser Kundgebungen wäre wohl viel geringer gewesen, hätten sie nicht Widerhall in selbstgerechtem Hang dazu gewesen, die Ränder der Gesellschaft für etwas verantwortlich zu machen, das in Wirklichkeit ein Problem des Mainstreams ist.

[1] Aus dem Englischen zurück übersetzt.

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