Deutsche Ansichten zu einem neuen Holocaust und Neonazis

Manfred Gerstenfeld (direkt vom Autor)

Anfang der 1990-er Jahre interviewte ich in Frankfurt am Main ein Vorstandsmitglied einer der deutschen Großbanken. Das Gespräch fand im Rahmen meiner Vorbereitung eines Buches zur Zukunft des wirtschaftlichen und politischen Potenzials Italiens statt, das ich mit verfasste. Ich war gekommen, um die Veränderungen in Deutschland nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 zu diskutieren. Das Interesse meines Interviewpartners an dem Gespräch nahm stark zu, als er erkannte, dass ich Israeli war.

Seiner Meinung nach könnte es einen weiteren Holocaust geben. Er sagte, in Deutschland habe sich viel zu wenig geändert. Damals fand ich das eine bizarre Äußerung. Doch die aktuelle Meinungsumfrage des World Jewish Congress (WJC) zu Deutschland zeigte, dass diese Meinung im Land weit verbreitet ist.[1] Die Umfrage stellte fest, dass 25% der Deutschen glauben ein weiterer Holocaust könne stattfinden. Dieser Anteil übersetzt sich in rund 18 Millionen Bürger – weil 71 Millionen Deutsche älter als 18 sind, die Altersgrenze für die Umfrage.[2] Weitere 24% sind sich nicht sicher. Das lässt nur 51% übrig, die glauben, dass es in Deutschland keinen weiteren Holocaust geben kann.[3]

Die große WJC-Umfrage, in der 81 Fragen gestellt wurden, ist hauptsächlich wegen ihrer Daten zu Antisemitismus zitiert worden.[4] Man kann daraus aber viel mehr erfahren. Die Datenmenge, kombiniert mit bestehenden qualitativen Informationen ermöglichen es konkretere Schlussfolgerungen als zuvor zu ziehen.

Noch mehr Deutsche, nämlich 38%, glauben, es sei möglich, dass etwas wie der Holocaust in der Zukunft in anderen europäischen Ländern geschehen könnte. Das sind mehr als die 33%, die denken, dass es nicht möglich ist. 29 Prozent sagten, sie seien sich nicht sicher.[5]

Fast 6 Millionen Deutsche glauben, dass es den Leuten nicht erlaubt sein sollte heute in Deutschland Nazi-Parolen und -Symbole zu verwenden. Elf Prozent – weitere 8 Millionen – sind sich nicht sicher. Die anderen 54 Millionen sagen, dies solle nicht erlaubt sein.[6] Noch mehr Menschen, fast acht Millionen (11%), glauben, dass es für Einzelne akzeptabel ist Neonazi-Ansichten zu haben. Weitere acht Millionen sind sich nicht sicher.[7] Man kann daraus schließen, dass Radikale für „ungehinderte freie Meinungsäußerung“ in einem Land mit grausamer Vergangenheit wie Deutschland weit erheblichere antijüdische und antiisraelische Hassrede möglich machen würde.

Von Zeit zu Zeit marschieren Neonazis durch deutsche Städte. Diese Märsche werden oft genehmigt. Im Oktober 2019 marschierten solche Demonstranten jeden Montag in Dortmund. Das Oberverwaltungsgericht in Münster entschied, dass den Marschierenden die Verwendung der Parole „Nie, nie, nie wieder Israel“ erlaubt ist. Das Gericht sagte, das stelle keine Aufstachelung dar. Die Polizei hatte die Parole verboten. Die Neonazis legten dagegen Berufung ein und siegten sowohl in erster als auch in zweiter Instanz.[8]

Nach dem fehlgeschlagenen Anschlag an Yom Kippur an der Synagoge in Halle entschied die deutsche Regierung, dass von jetzt an alle Internet-Plattformen und sozialen Medien die Sicherheitskräfte und die Polizei über Hass-Inhalte informieren müssen.[9] Allerdings fragt man sich, wie die deutsche Regierung die deutschen Internetseiten auf Arabisch und Türkisch kontrollieren will.

Die oben genannten Daten helfen auch das Wählerpotenzial des extremen ethnischen Flügels der rechtspopulistischen AfD zu verstehen. Von dieser Fraktion wird angenommen, dass sie kleiner ist als die moderatere Hauptfraktion. Bei der Wahl in Thüringen im Oktober wurde die AfD mit 23,4% der Stimmen zur zweitstärksten Partei. Ihr dortiger Parteichef Björn Höcke ist die bekannteste Person des ethnischen Flügels der Partei.[10] Bei der Wahl wurde Die Linke mit 31% zur stärksten Partei. Damit haben die beiden extremen Parteien beträchtlich mehr Sitze als alle im Landesparlament vertretenen Mainstream-Parteien zusammen.

Hier können nur ein paar Aspekte der großen Umfrage des WJC Erwähnung finden. Bei der Analyse kann man mehrere der problematischen Realitäten des zeitgenössischen Deutschland hervorheben. Es gibt in der Tat Dutzende Millionen, die für einen gut funktionierenden demokratischen Staat sind. Dennoch gibt auch viele Millionen, die aus dem Holocaust nicht viel, wenn überhaupt etwas gelernt haben.

Die Studie stellte die Frage: Woher erhalten Sie die meisten Ihrer Informationen zu Juden? Fernsehen war mit 32% die vorherrschende Antwort, gefolgt vom Internet mit 16% und Zeitungen mit 12%.[11] Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Zahlen zu Israel sich sonderlich unterscheiden. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2015 stellte fest, dass 41% – fast 30 Millionen Menschen – glauben, „Israel handelt gegenüber den Palästinensern wie die Nazis gegen über den Juden“.[12]

Die Annahme ist vertretbar, dass diese Option in erster Linie durch die Stimmung der Medien des Landes geschaffen wurde. Das Deutsche Fernsehen ist hauptsächlich öffentlich-rechtlich. Um den grassierenden Antiisraelismus im Land zu bekämpfen, sollte eine tiefgehende Studie der deutschen Fernsehsendungen zu Israel durchgeführt werden. Man kann annehmen, dass viele ihrer Journalisten linksliberal sind, ein Segment der Gesellschaft, in dem viele zu finden sind, die Israel dämonisieren.

Es gibt mehrere wichtige Gründe dafür, dass Deutschland sich im Wandel befindet. Eine wichtige Ursache ist die wirtschaftliche Rezession. Ein weiterer Grund ist der große Niedergang der beiden Parteien, die das Land seit seinen ersten Nachkriegswahlen regiert haben, die Christdemokraten (CDU) und die Sozialisten (SPD). Ihr gemeinsamer Wähleranteil bei den letzten Umfragen liegt bei rund 40%. Dieser Rückgang hängt mit der viel zu liberalen Zuwanderungspolitik der CDU-SPD-Regierungen seit 2015 zusammen.

2017 interviewte die BBC Niklas Frank, den Sohn von Hans Frank, der von 1939 bis 1945 Generalgouverneur in Polen war. Letzterer wurde bei den Nürnberger Prozessen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit für schuldig befunden und 1946 hingerichtet.[13] Der Sohn verachtet seinen Vater. In der BBC sagte er über das zeitgenössische Deutschland: „Trauen Sie uns nicht.“ Die Befunde der Studie des WJC scheinen diese Einschätzung zu stützen.

[1] rasmussenglobal.com/wp-content/uploads/2019/10/WJC-Germany-Antisemitism-Asessment-Survey_Topline-Results_General-Population2.pdf

[2] ebenda, Frage 51.

[3] ebenda, Frage 51.

[4] www.sueddeutsche.de/politik/antisemitismus-deutschland-juedischer-weltkongress-1.4652536

[5] rasmussenglobal.com/wp-content/uploads/2019/10/WJC-Germany-Antisemitism-Asessment-Survey_Topline-Results_General-Population2.pdf  Ibid, question 52.

[6] ebenda, S. 45.

[7] ebenda, S. 44.

[8] http://www.juedische-allgemeine.de/politik/gericht-bewertet-antisemitische-hass-parole-als-nicht-strafbar/?fbclid=IwAR30aFCddbKGC3JXuFTD94jBH_qNme1RsyGWOstsVXEW6PW8aPesFOkDR

[9] www.reuters.com/article/us-germany-politics-security/synagogue-attack-prompts-german-crackdown-on-right-wing-hate-crime-idUSKBN1X91HS

[10] www.watson.de/deutschland/best%20of%20watson/809698121-thueringen-jeder-4-waehlt-afd-bjoern-hoecke-in-13-zitaten

[11] ebenda, Frage 15.

[12] http://www.bertelsmann-stiftung.de/en/topics/aktuelle-meldungen/2015/januar/germans-take-skeptical-view-of-israel/

[13] www.youtube.com/watch?v=SSMemfHh7Og