Der Lockdown und meine Zeit im Versteck während des Holocaust

Manfred Gerstenfeld (direkt vom Autor)

In der Regel erinnere ich mit in den Tagen vor dem Yom HaSchoah an die eineinhalb Jahre, die ich während des Holocaust in einem Versteck verbrachte. In dieser Zeit war ich mit meinen Eltern in einer kleinen Wohnung in Amsterdam eingesperrt. Bis heute verstehe ich nicht, woher sie die mentale und emotionale Kraft hatten diese Situation auszuhalten. Als 6 bis 7 Jahre altes Kind begriff ich die volle Bedeutung bzw. die damit zusammenhängenden Risiken nicht. Ich weiß heute, dass zwischen 30 und 40 Prozent der in Holland versteckt lebenden Juden an die Deutschen verraten wurden, hauptsächlich durch Niederländer.

Meine Eltern hatten unter dem Namen einer unverheirateten Mutter eine kleine Wohnung im Zentrum von Amsterdam gemietet. Heute weiß ich, dass diese Wohnung etwa einen Kilometer vom Versteck von Anne Frank und ihrer Familie lag. Diese Wohnung war die Stelle, wohin wir gehen wollten, wenn klar würde, dass niederländische Juden in das Transitlager Westerbork gebracht werden. Wir wussten nicht, dass von dort jede Woche Züge in den Osten abfuhren. Die Menschen, die nach Sobibor geschickt wurden, wurden bei ihrer Ankunft sofort ermordet. Ein Teil derer in den Zügen, die nach Auschwitz-Birkenau geschickt wurden, wurde sofort vergast. Andere niederländische Juden hatten eine kleine Überlebenschance, wenn sie in Arbeitseinsätze geschickt wurden. Doch die meisten von ihnen starben infolge der furchtbaren Umstände in den Lagern.

Die Wohnung, in der wir uns versteckten, hatte drei Räume. Die Frau, unter deren Namen die Wohnung gemietet wurde, hatte das vordere Zimmer. Ihr Sohn war ein Seemann, der selten zu Besuch kam. Das mittlere Zimmer war sehr klein und hatte keine Fenster. Dort schlief ich. Wir lebten tagsüber im Hinterzimmer, wo meine Eltern nachts schliefen. Unter uns war ein Laden, der Schreibmaschinen verkaufte. Die dort arbeitenden Menschen wussten, dass eine alleinstehende Frau über ihnen wohnte, die tagsüber arbeiten ging. Wir waren daher kaum in der Lage uns zu bewegen oder während der Geschäftszeiten einen Mucks von uns zu geben.

Die mutige Widerstandsbewegung versorgte uns mit Lebensmittelmarken. Ohne diese wäre die Dame nicht in der Lage gewesen uns Lebensmittel zu kaufen. Ein Cousin meines Vaters, selbst versteckt lebend, besorgte uns das Geld, um die Miete zu zahlen und Grundnotwendiges zu kaufen. Unter normalen lokalen Umständen hätten wir keinen Strom gehabt. Aber jemand aus dem Widerstand verband uns mit dem Strom des Schuhgeschäfts ein paar Häuser weiter, das einem niederländischen Nazi-Kollaborateur gehörte. Radios waren damals ziemlich groß und brauchten Strom. Es war illegal ein Radio zu besitzen, andererseits waren wir selbst illegal.

Viele versteckt lebende Juden waren durch diese Zeit ihr ganzes Leben lang traumatisiert. Die Zeit der Isolation hatte auf sie einen anhaltenden Einfluss. Meinen Vater beeinflusste die Isolation jedoch auf gegenteilige Weise. Im Versteck schwor er, wenn er den Krieg überlebte, würde er den Rest seines Lebens der Hilfe für jüdische Überlebende widmen.

Und das tat er. Nach dem Krieg gründete er in der Amsterdamer aschkenasischen Gemeinde einen Fachbereich für Soziales und Seelsorge. Diese Organisation half Überlebenden auf viele Weisen. Obwohl ein jüdischer Dachverband geschaffen worden war, um Menschen bei finanziellen Problemen zu helfen, half auch die Abteilung meines Vaters in gewissem Maß vielen armen Menschen.

Neben Armut gab es auch enorme soziale Probleme. Viele Juden hatten alle oder die meisten ihrer Verwandten verloren. Mein Vater organisierte ausdrücklich für Überlebende konzipierte Gemeindeaktivitäten, wo sie zusammenkamen, manchmal um Vorträge zu hören oder sich künstlerisch oder mit Stickerei zu beschäftigen. Er begann auch gemeinsame Fahrten zu organisieren, anfangs zu anderen jüdischen Gemeinden in den Niederlanden später zu jüdischen Gemeinden im sonstigen Westeuropa. Schließlich gab es jährliche Reisen nach Israel. Diese Aktivitäten wurden von Juden finanziell unterstützt, die ihre Geschäfte nach dem Krieg wieder aufgebaut hatten und das als wertvolle karitative Sache betrachteten.

Die Verfassung der überlebenden Juden – drei Viertel der 140.000 niederländischen Juden vor dem Krieg waren von den Deutschen ermordet worden – unterschied sich radikal von der der Gesamtgesellschaft. Mit den Problemen eines Teils von ihnen zu tun zu haben machte meinen Vater zu einem Pionier der niederländischen Sozialarbeit; dabei handelte es sich um einen Beruf, der erst am Anfang wissenschaftlicher Erforschung stand. Ein niederländischer Professor für Zeitgeschichte, Isaac Lipschits, schrieb die Biografie meines Vaters. Sie wurde zu einem kommerziellen Buch.

Während dieser Zeit des Lockdowns in Israel habe ich begonnen mehr als üblich und detaillierter über meine Zeit während der Schoah nachzudenken. Meine persönliche Geschichte gibt mir eine radikal andere Perspektive auf die zeitgenössische Situation als vielen Israelis. Obwohl die aktuelle Isolation eine Vielzahl Nachteile mit sich bringt, sind diese verglichen mit den Tagen, als ich untergetaucht war, unbedeutend.

Der Coronavirus ist unangenehm, aber verglichen mit der Wahrscheinlichkeit vergast zu werden ist das minimal. Ich bin nicht allein im Lockdown, sondern mit vielen Israelis zusammen. Ich stecke zudem mit vielen Menschen der westlichen Welt zusammen da drin. Meine Kinder bringen Essen. Es ist qualitativ weitaus besser als das, was ich in den letzten Jahren der Schoah aß. Habe ich gegen Ende des Krieges auch Tulpenzwiebeln und Zuckerrüben gegessen? Ich erinnere mich nicht. Ich erinnere mich, dass ich Dank der Schweden ein paar Tage nach Kriegsende zum ersten Mal überhaupt ein Stück Weißbrot aß.

Heute gibt es angenehme Überraschungen. Freunde rufen an und erkundigen sich, wie es mir geht. Ich rufe andere Freunde an, um herauszufinden wie es ihnen geht. Ich habe einige Anrufe von Menschen erhalten, von denen ich meist nichts höre. Freunde aus dem Ausland schreiben mir ebenfalls. In vielen dieser Unterhaltungen lerne ich interessante Dinge, öfter nichts, das ausdrücklich im Zusammenhang mit dem Lockdown steht.

Einen der Höhepunkte meines Lockdown-Lebens gab es Freitagabend vor ein paar Wochen. Nachbarn und ihrer Kinder sangen an ihren Fenstern Kabbalat Schabbat. Andere schlossen sich von ihren Balkonen aus an. Eine Woche später gab es eine große Weiterentwicklung. Schabbat- und Abendgebete sind zu einer kollektiven Erfahrung geworden. Mehr als die für ein Minyan benötigten 10 Personen versammeln sich auf der Straße und halten Abstand von einander, während einige, ich eingeschlossen, von den Balkonen aus mitmachen.

Wir sind jetzt in der vierten Woche der Schabbat-Gottesdienste. Sie sind formalisiert worden. Menschen kommen auf der Länge von 100 Metern auf die Straße und stellen sich im vorgeschriebenen Abstand voneinander auf. Der Chazzan (Kantor) führt den Gottesdienst an, weil er eine sehr laute Stimme hat. Während Pessah und dem letzten Schabbat fügen wir eine Lesung der Thora sowie den priesterlichen Segen hinzu. Während der Wochentage von Pessah gab es oft Nachmittag- und Abendgebete, eine Frau von gegenüber stellte Gläser und eine Flasche – so denke ich – Wein nach draußen, damit Kiddusch gemacht werden kann. Ich kann nicht zur Synagoge gehen, doch ich habe das Glück, dass die Synagoge zu mir gekommen ist.

Wenn ich darüber nachdenke, erkenne ich vollkommen, wie wichtig es war, dass meine verstorbene Frau und ich vor mehr als 50 Jahren beschlossen Europa zu verlassen und nach Jerusalem zu ziehen.

2 Gedanken zu “Der Lockdown und meine Zeit im Versteck während des Holocaust

  1. Danke, lieber Manfred Gerstenfeld, für diesen zu Herzen gehenden Bericht. Wie schrecklich, sich als Kind den ganzen Tag mucksmäuschenstill zu verhalten, weil man im Geschäft darunter Verdacht schöpfen könnte!

  2. Voll des Respektes bin ich. Ich wurde das Gegenteil gelehrt. Man muss Juden hassen, speziell ihren König.
    Mir fehlte dafür die Einsicht, und sie fehlt mir bis heute. Aus Geschichten wie dieser zog ich die Kraft die Seite zu wechseln, und nicht zu schweigen. Mein Dank gilt all unseren Vorbildern, die es Gott seis gedankt auch gibt. Besonders danke ich jedoch Gott, der mir die Angst vor den Spöttern genommen hat. Er ist die Liebe in Person. Israel soll leben. Es hat genug gelitten.
    Deine Hasser werden nicht gewinnen. Nein, sie werden unterliegen, denn Licht ist stärker als Finsternis. Israel, höre auf, dich vor ihnen zu fürchten. Deine Feinde werden wie die Hasen laufen, wenn sich der geballte Zorn Gottes entlädt. Er hat sich fest vorgenommen, seine Gerechtigkeit aufzurichten, und das genau wird er erfüllen.Und die ganze Erde wird erkennen müssen wie kurzatmig die Lüge ist.
    Die Wahrheit hat kein Verfallsdatum. Herzlichen Dank Herr Gerstenfeld!

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