Warum begibt sich Israel immer nur in die Defensive?

Victor Rosenthal, Abu Yehuda, 12. September 2021

Seit 1967 ist das Gebiet unter israelischer Kontrolle beträchtlich geschrumpft. Gleichzeitig haben die Bedrohungen der Sicherheit der Israelis zugenommen. Der Terrorismus nimmt ab und wieder zu, geht aber nie ganz weg. Auch wenn es „Friedensverträge“ (eigentlich langfristige Waffenstillstandsabkommen) mit Ägypten und Jordanien gibt, hat sich die Feindschaft der palästinensischen Araber nur verstärkt. Die Hamas bedroht weiter die Einwohner des südlichen Israel mit Raketen, Mörsergranaten, Infiltrationsversuchen, Brandballons und neuerdings auch mit Maschinengewehrfeuer. Israels Kontrolle über Judäa und Samaria sowie das Jordantal, die für die Verteidigung des Staates unerlässlich ist, ist im Verlauf der Zeit schwächer geworden: Die Areas A und B sind für Juden No-Go-Zonen und in Area C verbreitet sich arabische Bautätigkeit. Selbst innerhalb des Israel von vor 1967 entgleiten Teile Galiläas und des Negev israelischer Kontrolle. Es gibt neue existenzielle Bedrohungen, die kurz davor stehen akut zu werden: das iranische Atomprojekt und die Entwicklung von Präzisionsraketen und Drohnen durch die Hisbollah und die Hamas.

Nicht, dass es keine Lichtblicke gäbe. Einige Beispiele sind die Abraham-Vereinbarungen, die beweisen, dass wahre jüdisch-arabische Kooperation um ein gemeinsames Ziel nicht unmöglich ist und sogar noch ermutigender, dass es die Form eines „warmen Friedens“ annehmen kann, der mehr ist als ein bloßer Waffenstillstand. Aber insgesamt haben die Siege von 1967 es nicht geschafft sich in einen – in den Worten von Shimon Peres – „neuen Nahen Osten“ übersetzen zu lassen.

Einer der Gründe lautet, dass es ein ideologischer Konflikt ist, der auf den maßgeblichen Grundsätzen des Islam basiert, die nicht übertüncht werden können. Das wird in der absehbaren Zukunft ein Problem bleiben und es gibt wenig, das wir in Israel deswegen tun können. Aber trotzdem gibt es einen pragmatischen Ansatz, der den Respekt unserer Nachbarn beibehält, auch wenn der nicht von Zuneigung begleitet ist.

Israel hat die technologischen und wirtschaftlichen Zutaten, die den Respekt (sowie Furcht und Abschreckung) einfordern, die wir brauchen, um eine regionale Macht zu werden – tatsächlich DIE herausragende Regionalmacht. Aber um das eintreten zu lassen, gibt es eine fundamentale strategische Veränderung, die wir vornehmen müssen. Wir müssen aufhören in der Defensive zu bleiben sondern in die Offensive gehen.

Die defensive Haltung ist tief in unserer politischen und militärischen Kultur verwurzelt, selbst wenn öffentliche Äußerungen das Gegenteil andeuten. Sogar der Krieg von 1967, als unser taktischer Ansatz darin bestand in die Offensive zu gehen, wurde in Reaktion auf unmittelbar bevorstehende Bedrohungen aus Ägypten und Syrien gekämpft. Seitdem sind fast jeder militärische Feldzug und alle unsere diplomatischen Aktivitäten reaktiv statt proaktiv gewesen. Allerdings ist unsere Diplomatie, die sogar eine Zeit lang die verderbliche Idee des „Land für Frieden“ übernahm (ich hoffe, diese Zeit ist vorbei) schlimmer als reaktiv gewesen – sie ist unterwürfig gewesen.

Bedenken Sie die Taktiken, die wir in Reaktion auf die verschiedenen Bedrohungen seitens unserer Feinde übernommen haben: Statt aggressiv auf Raketenangriffe zu antworten, um Abschreckung zu schaffen, beschlossen wir die Raketen mit der Eisernen Kuppel abzuwehren und den wirtschaftlichen Schaden zu akzeptieren, der durch die unverhältnismäßigen Kosten angerichtet wird (Hamas-Raketen kosten vielleicht ein paar hundert bis ein paar tausend Dollar, während die von der Eisernen Kuppel eingesetzten Projektive jedes $50.000 kosten und in der Regel in Paaren verschossen werden.) Vergeltung für Brandballons wird sorgfältig abgestimmt, damit niemand verletzt wird. Wir versuchen minimale Gewalt einzusetzen, um an unserer Gaza-Grenze menschliche Angriffswellen abzuwehren und um gewalttätige Krawalle in Judäa und Samaria niederzuwerfen. Wir begrenzen die Ausweitung jüdischer Gemeinden in den Gebieten, während wir die Bauvorschriften auf von Europa finanzierte arabische Bautätigkeit in Area C nur minimal durchgesetzt werden und versäumen es illegale Beduinensiedlungen zu entfernen.

Israelfeindliche Medien machen viel Bohei um Abweichungen von den „keinen Schaden zufügen“-Regeln, aber diese sind Ausnahmen und widersprechen der Gesamtpolitik. Eines der Hauptziele der israelfeindlichen „Forschung“ an links dominierten Universitäten besteht sogar darin zu zeigen, dass die breite Strategie Israels, sowohl historisch als auch zeitgleich, darin besteht Araber zu verletzen und zu unterdrücken. Um das zu tun ignorieren sie wichtigen Kontext, übertreiben und erfinden sogar „Fakten“.

Warum also versäumt es Israel „offensiv zu werden“? Warum spielen wir den Ball immer unseren Feinden zu und ermutigen sie wieder zu punkten? Warum ist die wichtigste Überlegung der Sicherheitskräfte in jeder Situation größeren Konflikt zu meiden, um „die Dinge nicht weiter aufzuheizen“?

Es ist verlockend zu sagen, dass es eine inhärente Schwäche der jüdischen Psyche ist, vielleicht in unseren Jahrtausenden in der Diaspora erlernt, die uns davon abhält aggressiv zu handeln. Aber dem ist nicht so: Während der Phase vor der Staatsgründung und dem Unabhängigkeitskrieg übernahmen wir die Initiative, militärisch wie diplomatisch. Was hat sich geändert?

Ich denke, das Problem besteht darin, dass es heute in Israel keine Vereinbarung zu angemessenen langfristigen Zielen gibt, die zu erreichen wir anstreben. Bis 1948 war das Ziel, das die große Mehrheit der Juden im Jischuw unterstützte, die Gründung eines souveränen Staates, selbst wenn es Meinungsverschiedenheiten zur genauen Wesen dieses Staates gab. Weil es ein gemeinsames Ziel gab, gab es kein Zögern dabei die Strategien und Opfer anzunehmen, die notwendig waren es zu erreichen.

Heute gibt es einen jüdischen Staat und die Meinungsverschiedenheiten über sein Wesen trennen uns. Unsere Kompromissregierung spiegelt unsere Spaltung perfekt. Das Gesetz zum Nationalstaat, das versucht zu erklären, was es heißt ein „jüdischer“ Staat zu sein, ist umstritten. Und die Gegnerschaft zu dem Gesetz besteht nicht nur aus Arabern; es gibt Juden, denen die Idee eines jüdischen Staates peinlich ist und die einen „Staat aller seiner Bürger“ bevorzugen würden.

Die Staaten, die sich ambitionierte Ziele gesetzt haben – ob wir sie nun als gerecht, moralisch, vorteilhaft oder das Gegenteil davon betrachten – sind diejenigen, die aggressive, proaktive Ziele verfolgen. Der Iran und Russland fallen einem dazu ein. Wo es solche Ziele nicht gibt, wie es oft in politisch gespaltenen demokratischen Ländern wie den USA und Großbritannien der Fall ist, ist die Politik unbeständig und schwach. In Israel nimmt dies die Form der Regierung an, die entsprechend dem kleinsten gemeinsamen Nenner der öffentlichen Meinung entspricht, der da „haltet uns sicher“ lautet.

Leider für die Israelis ist die Politik des sich lediglich Verteidigens nicht einmal effektiv darin, die Bevölkerung sicher zu halten. Indem dem Feind erlaubt wird die Initiative zu ergreifen, erlaubt man die Entwicklung zukünftiger existenzieller Bedrohungen. Eine Fortsetzung dieser Politik wird zu weiterer Schrumpfung des jüdischen Staats führen, bis nur die Volksrepublik Nord-Tel Aviv übrig sein wird – und die wird ein von arabischen Staaten umgebener binationaler Staat sein.

Aber die Optionen sind nicht nur expansiver Imperiumbau, wie er von Russland und Iran betrieben wird, oder das ziellose Treiben, in das wir verfallen sind. Es gibt eine weitere Alternative. Das ist die Rückkehr zum Ziel einiger der frühesten Zionisten: die jüdische Besiedlung von ganz Eretz Yisrael und die Einrichtung jüdischer Souveränität im ganzen Land, vom Fluss bis zum Meer, entsprechend der natürlichen geostrategischen Grenzen des Landes (dabei darf nicht ungesagt bleiben: Man könnte leicht vergessen, dass noch 2007 ein israelsicher Premierminister (Omert) die Rückgabe der Golanhöhen an Syrien anbot).

Das ist ein Ziel, für das das Volk Israels kämpfen würde und eines, das uns in die Lage versetzen würde die rein defensive Strategie durch eine proaktive, aggressive zu ersetzen, die unsere fortgesetzte Existenz garantieren würde.


Ergänzung: Die „Fortsetzung“, was wegen dieser falschen Defensive unternommen werden kann, ist bei „Der Papa bloggt das schon“ zu lesen: Unsere existentielle Wahl

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