Die Westmauer: von antiken Steinen zum modernen Symbol

Chaim Lax, HonestReporting, 19. Januar 2023

Wenn sie über die verschiedenen religiösen Stätten in der Altstadt von Jerusalem berichten, bezeichnen die internationalen Medien gelegentlich die Westmauer (auf Hebräisch: Kotel) fälschlich als „die heiligste Stätte des Judentums“.

Früher stellte HonestReporting diese Nachrichtemedien wegen dieses Fehlers zur Rede (siehe hier, hier und hier)  und wies darauf  hin, dass für das jüdische Volk der heiligste Ort in Wirklichkeit der angrenzende Tempelberg ist.

Wenn der Tempelberg der heiligste Ort des jüdischen Volks ist, warum gibt es ständige Verwirrung wegen der Westmauer? Und wenn sie nicht der heiligste Ort des Judentums ist, welche Bedeutung hat die Kotel dann heute?

In diesem Text werfen wir einen Blick auf die Geschichte der Westmauer sowie die wichtige Rolle, die sie im modernen Judentum spielt.

Die Westmauer: von den Römern zu den Osmanen

Im Jahr 20 v.Chr. unternahm König Herodes, der Herrscher Judäas, eine mutige archäologische Initiative: die Erweiterung des Tempelbergs.

Mit der Einebnung der Nordwestseite des Geländes und der Auffüllung von Teilen der umgebenden Täler verdoppelte König Herodes sie Fläche des Tempelbergs, womit er ihn von einem bescheidenen Ort der Verehrung in eine prachtvolles Meisterstück der Architektur machte.

Als Teil dieser Renovierungen wurde der Tempelberg an vier Seiten von Umfassungsmauern umgeben.

Als die Römer den Tempel im Jahr 70 n.Chr. zerstörten, blieben die Westmauer des Tempels, ließen sie auch die südliche und östliche Umfassungsmauer stehen. Die westliche Mauer des Tempelgebäudes wurde irgendwann vor dem siebten Jahrhundert zerstört

Nach der Zerstörung des Tempels und der Bar Kochba-Revolte (132-135 n.Chr.) verboten die Römer (und später die Byzantiner) den Juden die Stadt Jerusalem zu betreten. Während dieser Zeit beteten die Juden weiter auf dem Ölberg, der den Tempelberg überblickt, und an der südlichen und östlichen Umfassungsmauer, die als die Außenbezirke Jerusalems galten.

Zusätzlich wurde Juden erlaubt, einmal im Jahr, zu Tischa B’Av, einen Trauertag wegen der Zerstörung der jüdischen Tempel, auf den Tempelberg zu gehen.

Nach der muslimischen Eroberung Jerusalems im siebten Jahrhundert wurde Juden erlaubt in ihre heilige Stadt zurückzukehren und sie begannen an der westlichen Umfassungsmauer des Berges zu beten (nicht zu verwechseln mit der westlichen Tempelmauer). Diese Mauer ist die Westmauer, die wir heute kennen.

Mit Beginn des 10. Jahrhunderts gibt es eine Reihe historischer Berichte von Juden, die an der Westmauer beten. Zusätzlich gibt es Belege für eine Synagoge, die man als „Höhle“ kannte, die an der Mauer gebaut wurde und eines der wichtigsten Gebetshäuser  für die Juden Jerusalems war, bis sie von den Kreuzrittern am Ende des 11. Jahrhunderts zerstört wurde.

Während der Zeit der muslimischen Herrschaft vom 7. bis zum 16. Jahrhundert gab es unregelmäßig Zeiträume, in denen Juden in der Lage waren Jerusalem zu betreten und an der Westmauer zu beten sowie Zeiträume, in denen es Juden verboten war die heilige Stadt zu betreten.

Im 16. Jahrhundert gewann das osmanische Reich unter der Führung von Suleiman dem Prächtigen die Kontrolle über Jerusalem. Nach seiner Eroberung baute Suleiman die Mauern der Altstadt wieder auf und stellte den Felsendom wieder her.

Zusätzlich begrüßte Suleiman die Rückkehr der Juden nach Jerusalem und erkannt das Recht der Juden an der Westmauer zu beten an.

Nach einer Erdbeben-Katastrophe im Jahr 1546 räumte Suleiman den Schutt der zusammengebrochen Häuser aus dem Bereich, der der Mauer am nächsten lag und schaffte einen kleinen offenen Bereich (rund vier Meter breit und 28 Meter lang), damit die Juden dort beten konnten.

Vor der Einrichtung dieses Gebetsbereichs hatte Juden entlang der gesamten Westmauer gebetet, die sich tief ins muslimische Viertel erstreckte.

Abgesehen vom erleichterten Zugang zur Westmauer gab es drei weitere Gründe, warum die Mauer ein beliebter Gebetsort wurde, dass die südliche und östliche Umfassungsmauer des Tempelbergs in die neu gebauten Mauern der Altstadt eingebunden wurden, das Bevölkerungswachstum des jüdischen Viertels (das nahe an der Westmauer lag) und die Nähe der Westmauer zum Ort des Allerheiligsten auf dem Tempelberg.

Bis zum 16. Jahrhundert hatten die Juden aus verschiedenen religiösen und politischen Gründen aufgehört auf den Tempelberg zu gehen. Daher war statt am heiligsten Ort des Judentums zu beten, das Nächstbeste an der Stelle zu beten, die ihm am nächsten lag, also der Westmauer.

Während des 17. Jahrhunderts entwickelte sich jüdisches Gebet an der Mauer individuellem zu gemeinsamem Gebet.

Obwohl Suleiman der Prächtige Jerusalems Juden das Recht gewährte an der Westmauer zu beten und den Bereich für das Gebet erweitert hatte, schränkte das osmanische Reich weiter die volle Bandbreite jüdischer Bräuche an der Mauer ein.

Abgesehen von den Einschränkungen des Gebrauchs jüdischer ritueller Gegenstände war es Juden auch verboten Stühle und Bänke mit zur Westmauer zu bringen. Obwohl die osmanische Regierung eine Reihe Erlasse gegen das Mitbringen von Stühlen und Bänken erließ (der letzte davon 1911), waren Juden in der Lage diese Regeln zu umgehen, indem sie örtliche Staatsvertreter bestachen wegzusehen, wenn diese Dinge mitgebracht wurden.

Außerdem waren an der Westmauer betende Juden in der Zeit der Osmanen wie hinterher Übergriffen durch im Mughrabi-Viertel lebenden Arabern ausgesetzt, das an die Mauer angrenzte. Einwohner dieses Bereichs warfen ihren Müll neben die Mauer, richteten direkt daran Latrinen ein, schubsten an der Stelle betende Juden herum und führen ihre Tiere gezielt durch den Bereich.

Die Westmauer: von 1917 bis 1967

Im Ersten Weltkrieg gewann Großbritannien die Kontrolle über Jerusalem und gliederte es ins britische Mandat Palästina ein.

Schon früh in der neuen Verwaltung der Stadt versprachen die Briten den Status quo an religiösen Stätten beizubehalten (was später in Artikel 13 des Mandats für Palästina festgeschrieben wurde).

Das bedeutete, dass die Briten die osmanische Politik des Verbots von Bänken und Stühlen und der meisten jüdischen religiösen Gegenstände an der Westmauer fortsetzten.

Obwohl das Mandat für Palästina eine jüdische nationale Heimstatt ermöglichen sollte, schränkten die britischen Vorschriften an der Mauer aktiv die Rechte der jüdischen Bevölkerung ein und standen ihren nationalen Bestrebungen im Weg.

Das führte die 1920-er Jahre hindurch zu verstärkten Spannungen zwischen den Juden, Arabern und Briten in Jerusalem. Diese Spannungen spitzten sich 1929 zu, als eine Gruppe Juden an Tischa B’Av zur Westmauer marschierte, die Flagge der jüdischen Nationalbewegung hisste, die Hymne der Bewegung sang und einer kurzen Rede eines ihrer Mitglieder zuhörte.

Am nächsten Tag protestierten Muslime gegen den Tischa B’Av-Marsch, hetzten gegen die jüdische Bevölkerung und verbreiteten die Verschwörung, dass die Juden die Al-Aqsa-Moschee  zerstören würden. Diese Spannungen eskalierten dann und gipfelten in den Krawallen von 1929, die 133 Juden überall im Land das Leben kostete (darunter 66 in der uralten jüdischen Gemeinschaft in Hebron).

In der Folge dieser Krawall bildeten die Briten einen offizielle Kommission zur Westmauer und bestimmten, dass Juden zwar erlaubt sei dort zu beten, die Mauer aber der der muslimischen Gemeinschaft gehöre.

Die Kommission verschärfte die Einschränkungen für jüdische Aktivitäten an der Mauer weiter, indem sie die Errichtung einer traditionellen Trennung zwischen den Geschlechtern verbot, die Verwendung von Tischen, Stühlen und Bänken untersagte, die Verwendung eines Thoraschreins nur an bestimmten Feier- und Fastentagen zuließ und das Verbot das Widderhorn (Schofar) zu blasen.

Die Spannungen an der Westmauer gingen die ganze restliche Zeit des britischen Mandats über weiter. Inmitten dieser Spannungen gab es (ab 1930) jedes Jahr einen konzertierten Versuch am Ende von Yom Kippur als Mittel der traditionellen Beendigung des jüdischen Versöhnungstags das Schofar an der Mauer zu blasen, während sie es auch ablehnten sich den drakonischen Vorschriften der britischen Behörden zu unterwerfen.

Während der Mandatszeit fanden die letzten Gebete an der Westmauer am 29. November 1947 statt. Nach diesem Datum riegelten die Briten den Zugang zur Mauer und der Altstadt ab und die Altstadt stand unter der Belagerung durch die arabischen Milizen und Armeen.

Während des israelischen Unabhängigkeitskriegs1948/49 gewann Jordanien die Kontrolle über die Altstadt von Jerusalem, einschließlich der Westmauer. Obwohl in der Waffenstillstandsvereinbarung zwischen Israel und Jordanien vereinbart wurde, dass israelischen Juden erlaubt würde die Stätte zu besuchen, wurde das nicht eingehalten und die nächsten 19 Jahre wurde keinen israelischen Juden Zugang zur Westmauer gewährt und keinem Juden wurde erlaubt dort zu beten.

Die Westmauer: vom Sechstage-Krieg bis heute

Im Sechstage-Krieg von 1967 gewann Israel die Kontrolle über die Westmauer. Einer der ersten Israelis, der den Ort erreichte, war der damalige Verteidigungsminister Mosche Dayan, der ein Gebet um Frieden in die Mauer steckte.

Der Brauch aufgeschriebene Gebete in die Westmauer zu stecken entwickelte sich im 19. Jahrhundert und gewann  während der Mandatszeit an Beliebtheit, als die die Praxis abschafften Namen in die antiken Steine zu ritzen.

Kurz nach der Befreiung der Westmauer riss Israel die Häuser des Mughrabi-Viertels ab (das den Gebetsbereich der Mauer stützte), bot seinen Einwohnern alternativen Wohnraum an und erstattete ihnen den Preis für ihre Häuser.

Anstelle des Mughrabi-Viertels erweiterte Israel den Gebetsbereich, so dass er tausende Beter aufnehmen konnte.

Obwohl Israel gleichzeitig auch die Kontrolle über den Tempelberg gewann, stimmte der jüdische Staat zu der muslimischen Obrigkeit die Kontrolle der Stätte zu geben und verhängte eine Vereinbarung zu Status quo, nach dem den Juden nicht erlaubt wurde dort zu beten.

Daher behält die Westmauer unter israelischer Souveränität ihre Bedeutung als Gebetsstelle nahe des Allerheiligsten und symbolisiert weiter die historische Verbindung des jüdischen Volks zur heiligen Stadt Jerusalem.

Wegen der symbolischen Bedeutung der Westmauer ist es für mehrere israelische Militäreinheiten (wie den Fallschirmjägern, der Luftwaffe und der Elite-Infanterieeinheit Givati) zu Gewohnheit geworden ihre Vereidigungsfeiern dort zu veranstalten.

Die symbolische Bedeutung der Westmauer hat sie zudem zum Ziel judenfeindlicher Gewalt gemacht. 1974 konnte die israelische Polizei noch alle Betenden evakuieren, bevor dort eine Flaschenbombe explodierte.

Genauso haben in Zeiten erhöhter Spannungen arabische Aufrührer auf dem Tempelberg Felsbrocken und andere Wurfgeschosse auf jüdische Betende darunter geworfen, was die Evakuierung des Platzes vor dem heiligen Ort erforderte. Solche Vorfälle gab es 1990, 1996, 2001, 2016 und 2020.

Abgesehen vom Hauptplatz der Westmauer gibt es ein paar zugehörige Stellen, die bei Israelis wie auch Touristen zu beliebten in den letzten Jahren beliebt geworden sind.

Einer davon ist die Kotel Katan („kleine Westmauer“), eine Verlängerung der Westmauer im muslimischen Viertel der Altstadt. Sie ist kleiner als die Haupt-Westmauer und der Teil der Mauer hat im Lauf der Jahre an Beliebtheit zugenommen, weil sie still und näher am Ort des Allerheiligsten gelegen ist.

Ein weiterer Aspekt der Westmauer, der in den letzten Jahren populär wurde, sind die Westmauer-Tunnel. Die in den 1980-er Jahren gegrabenen Tunnel gehen entlang der Westmauer unter dem muslimischen Viertel weiter. Die Tunnel bieten Historikern die Möglichkeit die Mauer zu erforschen, während sie auch Touristen die Gelegenheit bietet die Geschichte der Mauer von der Antike bis heute besser zu verstehen.

Die letzte mit der Westmauer in Zusammenhang stehende Stätte, die in den letzten Jahren populärer geworden ist, ist Ezrat Israel, der egalitäre Abschnitt an der Mauer. Dieser Ort liegt am Robinson-Bogen nahe des Hauptplatzes und erlaubt nicht orthodoxen Juden Gottesdienste ohne die traditionelle Geschlechtertrennung, die am Hauptplatz existiert. Dieser Bereich ist allerdings nicht unumstritten; ultraorthodoxe Knesset-Mitglieder veranstalten Kundgebungen dagegen und in der Vergangenheit hat es dort gewalttätige Vorfälle gegeben.

Die Westmauer und der Islam

Im Islam wird die Westmauer als Al-Buraq-Mauer bezeichnet. Laut islamischer Tradition ist die Mauer die Stelle, an der Mohammed sein geflügeltes Tier, Buraq, während seiner nächtlichen Reise von Mekka in den Himmel anband, die über den Tempelberg in Jerusalem verlief.

Vor 1966 erkannten islamische Gelehrte und palästinensische Nationalisten den jüdischen Anspruch auf die Westmauer an. Allerdings haben seitdem (und insbesondere nach dem Sechstage-Krieg 1967) islamische Gelehrte versucht jegliche jüdische Verbindung zur Westmauer auszulöschen; sie behaupten, es handele sich dabei um eine rein muslimische Stätte.

Einige Beispiele dieses historischen Revisionismus und der Islamisierung dieser heiligen jüdischen Stätte beinhalten die Behauptung des ehemaligen Muftis von  Jerusalem, dass „Juden kein Recht an der Westmauer haben… und dass dieser Ort nur Muslimen heilig ist“; der ehemalige Mufti von Ägypten behauptete, dass Muslime die Mauer nicht „abtreten“ können, wie sie Teil der Al-Aqsa-Moschee ist (die auf dem Tempelberg steht) und der Minister für religiöse Angelegenheiten der palästinensischen Autonomiebehörde merkte an: „Die Geschichte hindurch hat niemand außer den Muslimen die Westmauer jemals als Gebetsort bezeichnet.“

Dieser Versuch die jüdische Verbindung zur Westmauer auszulöschen hat sogar die Säle der UNO erreicht.

2016 nahm die United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) eine Resolution an, die von sechs muslimischen Ländern vorgeschlagen wurde; damit wurde die Westmauer als muslimische Erbestätte anerkannt, während die Jahrtausende alte jüdische Verbindung zu  ihr herabgewürdigt wurde.

Wie aus dem Obigen zu erkennen ist, stellt die Westmauer für das jüdische Volk eine bedeutende  heilige Stätte dar. Aber anders, als manchmal in den Medien behauptet wird, ist die Westmauer nicht die heiligste Stätte des jüdischen Volks (das ist natürlich der Tempelberg).

Trotzdem hat die Westmauer einen besonderen Platz im Herzen des jüdischen Volks, wie es von den Millionen Menschen bestätigt wird, die den Ort jedes Jahr besuchen.

Es ist wichtig, dass die Medien bei der Berichterstattung zu Jerusalems heiligen Orten diese Unterscheidung anerkennen und auch das unzerstörbare Band des jüdischen Volks zur Westmauer bestätigen.