Ende Juni 2014 verstarb Professor Mordechai Abir. Er lehrte Nahost- und Islam-Studien an der Hebräischen Universität, bevor er in den Ruhestand ging. Manfred Gerstenfeld interviewte ihn vor zwanzig Jahren für sein Buch Israel’s New uture. (Das Buch wurde letztes Jahr mit einer neuen Einleitung unter dem Titel Israel’s New Future Revisited neu veröffentlicht.) Damals war der islamische Fundamentalismus gegenwärtig, aber nicht das große Problem, zu dem er seitdem geworden ist. In dem Interview zeigte Abir große Voraussicht dazu, wie der Fundamentalismus sich entwickeln könnte.
Dr. Manfred Gerstenfeld interviewt Mordechai Abir (1994)

Mordechai Abir lehrt Nahost- und Islam-Studien an der Hebräischen Universität. Er hat Bücher zu so unterschiedlichen Themen wir Saudi-Arabien, Öl und Äthiopien veröffentlicht. Sein jüngstes Buch, Saudi Arabia, Government, Society and the Gulf Crisis (Saudi-Arabien, die Regierung, die Gesellschaft und die Golfkrise) behandelt den Hintergrund und Einfluss der Golfkrise von 1990/91 und den Krieg.
In einer Diskussion, die in Jerusalem stattfand, begutachtet er den vermutlichen Einfluss des muslimischen Fundamentalismus auf islamische Staaten, globale Stabilität und Israel. Er seziert und analysiert die verschiedenen Kräfte am Werk mit der Präzision eines Chirurgen. Seine nüchterne Beurteilung bietet Grund für Sorge, ebenso seine Warnung, dass Israels Führung jeden Schritt sorgfältig abwägen muss, den sie in Richtung auf Frieden mit der arabischen Welt und besonders der PLO unternimmt, um eine mögliche Katastrophe zu vermeiden.
Seine Studie zur muslimischen Welt konzentriert sich auf den steigenden Einfluss des Neofundamentalismus; der gesamte Rest, glaubt er, ist zweitrangig. Und jede Untersuchung der Trends in der muslimischen Welt muss mit der arabischen Welt anfangen, deren Rolle ausschlaggebend ist.
Trotz der Fassade des sagenhaften Ölreichtums stellt Abir fest, dass die riesige Mehrheit der Araber arm und rückständig geblieben ist. Nur ein paar wenige der mehr als 20 arabischen Staaten – hauptsächlich die spärlich besiedelten – genießen beträchtliche Ölreserven und keines dieser Länder neigt dazu diesen Reichtum mit anderen gleichberechtigt zu teilen.
Bevölkerungswachstum, fehlende Entwicklung und ein fallender Lebensstandard schaffen vor dem Hintergrund von die Massen umgehendem Ölreichtum ein Umfeld, das für Fundamentalismus reif ist. Das ist der Schlüsselfaktor für alle Veränderungen, die in den kommenden Jahren voraussichtlich in der arabischen Welt stattfinden werden.
Neufundamentalismus, so nennt Abir den gegenwärtigen Trend, unterscheidet sich stark vom „modernen“ Fundamentalismus, der im späten 19. Jahrhundert entstand; er steht aber in keinerlei Zusammenhang zu seinem Vorgänger.
Der „moderne“ Fundamentalismus von vor 100 Jahre kam auf, als die arabische und muslimische Welt mit der bitteren Wahrheit konfrontiert wurde: Sie hinkte der globalen Entwicklung hinterher. „Sie war nicht länger ein wichtiger Teil der zivilisierten Gesellschaft“, sagt Abir. „Sie gehörte zur Dritten Welt. Die verachteten, ungläubigen christlichen Gesellschaften hatten die Araber nicht nur in jedem Bereich überholt, sondern sie schließlich auch noch kolonisiert.“
Abir betont, dass Fundamentalismus seine Grundlage in der Suche nach Antworten auf Probleme hat, die durch die auf die Welt des Islam treffende neue Welt aufgeworfen werden. Jamal al-Din-al-Afghani, der Vater des modernen Fundamentalismus, glaubte, dass die westliche Kultur und Philosophie von der Technologie getrennt werden könnte, von der er behauptete, der Westen habe sie in Wahrheit von den Muslimen entlehnt und weiter entwickelt. Sein Volk, predigte er, sollte sich zurückholen, was rechtmäßig ihm gehörte; die anderen Aspekte der westlichen Zivilisation lehnte er insgesamt ab.
Die Botschaft hat im Lauf der Jahre gewisse Veränderungen erlebt, sagt Abir, doch die grundsätzliche Ablehnung der westlichen Werte und Hegemonie bleibt im Kern unverändert. Was sich verändert hat, sind die Taktiken.
Unter den Umständen einer Zukunft ohne Hoffnung lehren islamische Fundamentalisten, dass die wahre Antwort auf die Missstände der Gesellschaft und die persönlichen Probleme der Menschen in der Rückkehr zu den Wurzeln liegt – den ursprünglichen Lehren Mohammeds und seiner Anhänger, das Leben, das sie führten und den Erfolg, die sie in den ersten Jahrhunderten hatten“, erklärt Abir. Was bedeutet das? Er weist auf gewisse Anziehungspunkte des Lebens in den frühen Jahren des Islam hin: Die Gesellschaft war egalitärer und die Menschen sorgten für einander, als die muslimische Welt von strenggläubigen, rechtschaffenen Herrschern geführt wurde.
Die alte Schule des Fundamentalismus des 20. Jahrhunderts, so die Muslimbrüder vor dem Zweiten Weltkrieg, strebten die Schaffung einer besseren Gesellschaft an“, sagt Abir. „Sie suchten nicht die Kontrolle über die Regierung. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand eine wichtige Veränderung statt: Die Muslimbrüder verlegten sich zunehmend auf Militanz und Terrorismus, um ihre Ziele zu erreichen.“
Diese Militanz führte zu einer zunehmend offenen Konfrontation zwischen Fundamentalisten und der erfolgreichen säkularen, nationalistischen panarabischen Bewegung, wie Nasser sie vertrat. „In Nassers Gefängnissen veränderten in den späten 1950-er Jahren einige Muslimbrüder ihren Ansatz komplett“, sagt Abir. „Sie glaubten nicht länger, dass eine säkulare Regierung sich in eine muslimische verwandeln konnte. Sie betrachteten Regierung und Gesellschaft als derart korrupt, dass sie sie von Grund auf neu aufbauen mussten, damit sie die Prinzipien des wahren Islam einhalten.“
Auf ihrer Suche nach totaler Veränderung, sagt Abir, begannen die Neofundamentalisten über Jihad – heiligen Krieg – nachzudenken, um ihre korrupten Regierungen zu stürzen und zu ersetzen. Sie setzten die arabischen Staaten mit den vorislamischen, Götzen dienenden Gesellschaften gleich. Die Neofundamentalisten lehnten das arabische Gemeinwesen ab, das sie mit westlicher Kultur, ihrem Materialismus und ihren philosophischen Grundlagen verbinden. Ihr führender Ideologe, Sayyid Qutb, der einige Jahre in den USA lebte, kehrte um 1950 nach Ägypten zurück, ganz und gar der westlichen Kultur entfremdet, die er beobachtete und verabscheute.
Qutb forderte die Nutzung aller zur Verfügung stehenden Mittel im Krieg gegen westlichen Einfluss. Sein oberstes Ziel: die örtlichen muslimischen Regierungen, die die Korruption und den Niedergang ihrer Gesellschaften zuließen. Er machte sie für die Einführung westlicher Missstände in die muslimische Gesellschaft verantwortlich. Er war außerdem überzeugt, dass diese Regierungen nicht in der Lage waren die sozialen und wirtschaftlichen Probleme ihrer Völker zu lösen.
Wie viele andere Muslimbrüder, die Nassers Regime ablehnten, wurde Qutb 1954 inhaftiert. Er wurde 1964 freigelassen, nur um 1966 vom Regime hingerichtet zu werden. Seine Bücher und Briefe aus dem Gefängnis hatten einen enormen Einfluss auf die Veränderung der Einstellung der Muslimbruderschaft. Sie stimulierten das Aufkommen des Neofundamentalismus in den 1960-er Jahren, seine Ausbreitung in den 1970-ern, seine weitere Verbreitung in den 1980-ern und die wachsende Militanz in den frühen 1990-ern.
Abir bringt das Bild auf den neuesten Stand: „Die Neofundamentalisten wollen das Gesellschaftssystem in eine von Juristen oder religiösen Führern regierte Theokratie verändern. Wir sehen heute einen militanten islamischen Fundamentalismus, der danach strebt arabische und muslimische Regime zu stürzen, um sie durch islamische zu ersetzen.“
„Sayyid Qutb und seine Anhänger fanden, dass der populäre Islam und der des Establishments, wie er in der islamischen Welt landläufig ausgeübt wird, den wahren Islam korrumpiert hatte“, sagt Abir. „Nach ihrer Auffassung war das schlimmer als die Lehren der Ungläubigen. Qutbs Anhänger hatten das Gefühl, dass sie sich aus den korrumpierten Gesellschaften lösen mussten, in denen sie lebten, um einen neuen Zirkel wahrer Muslime zu schaffen. Das gestalteten sie entsprechend des Hijra, des Umzugs Mohammeds von Mekka nach Medina. Das Denken der verschiedenen neofundamentalistischen Organisationen gründet immer auf dem Prinzip des Jihad und dass das Ziel die Mittel heiligt.
Das in diesem Ansatz zum Ausdruck gebrachte radikale Denken findet unter der Intelligenzia und den Massen in großen Teilen der frustrierten muslimischen Welt ein empfängliches Publikum. Abir hält fest, dass nur ein paar Millionen Araber tatsächlich den großen Reichtum genießen, der von den Öleinnahmen generiert wird. „Die muslimischen Habenichtse zählen rund 800 Millionen, darunter 200 Millionen Araber“, sagt er. „Ihr Lebensstandard verschlechtert sich ständig, weil sie sich so schnell vermehren. Das Wirtschaftswachstum vieler Länder kann dem nicht folgen. Doch die Habenichtse sind, zusammen mit einigen Intellektuellen, die sich ihnen angeschlossen haben, durch politischen Frust motiviert, der das Ergebnis des Niedergangs der muslimischen Macht gegenüber dem Westen ist.“
Er verweist auf das zeitgenössische Ägypten als typisches Beispiel. Armut lebt dort mit extremem Reichtum zusammen, stellt er fest; und der Lebensstandard der Massen verschlechtert sich weiter. Unkontrolliertes Bevölkerungswachstum und die Grenzen der Zahl der Menschen, die durch die Landwirtschaft existieren können, tragen zur steigenden Migration in die Städte bei, denen die Infrastruktur fehlt, um sie aufzunehmen.
Als Beispiel zitiert er den nicht arabischen Iran, der unter Ayatollah Khomeini eine totalfundamentalistische Revolution durchmachte. „Das Schicksal des iranischen Durchschnittsbauern verbesserte sich im Vergleich zur Zeit des Schahs zeitweise. Das ist aber nicht mehr so und das städtische Proletariat sieht sich zunehmendem Elend ausgesetzt. Damit hat der fundamentalistische Modellstaat nicht nur dabei versagt die sozioökonomischen Probleme des Iran zu lösen, er hat sie verschärft.
Der Iran hat das Potenzial eine gut situierte Gesellschaft zu werden, wenn er seine Öleinnahmen dazu nutzt seine Wirtschaft zu entwickeln. Er reserviert allerdings einen großen Prozentsatz seines Einkommens für den Aufbau seiner militärischen Stärke, mit dem er bei seinem Streben zur Wiedergewinnung des Status als Regionalmacht im Golf und möglicherweise der muslimischen Welt konventionelle und nicht konventionelle Waffen erwirbt.
„Der schiitische Iran sieht sich selbst als Vorhut des wahren Islam in der muslimischen Welt“, fährt Abir fort. „Das erste Ziel seines militant-fundamentalistischen Islam ist die arabische Welt. Der Iran ist zum Unterstützer aller islamischen Revolutionsbewegungen von Marokko bis Afghanistan geworden, einschließlich der Hamas und der Bewegungen des Islamischen Jihad in den Gebieten und in gewissem Umfang selbst der israelisch-arabischen Fundamentalisten.“
Abir sagt, die Hamas und der Islamische Jihad erhielten beide direkte wie auch indirekte finanzielle Hilfe aus dem Iran, der außerdem die Hisbollah im Libanon unterstützt. „Ihre Kader werden im Iran ausgebildet oder iranische Revolutionsgarden bilden sie im Libanon und dem Sudan aus. Dafür wird eine Menge Geld ausgegeben, sagt Abir.
Er merkt an, dass die iranische Regierung auch Trainingslager für fundamentalistische Extremisten im Sudan und – indirekt – deren Aktivitäten gegen Ägypten, Libyen und Nordafrika finanziert. Präsident Rafsandschani hat den Ägyptern angedeutet, er werde weiterhin ihr Regime untergraben, solange sie mit den Amerikanern bei den Anstrengungen zum Voranbringen des arabisch-israelischen Friedensprozesses zusammenarbeiten.
„Die Iraner zielen darauf ab, alle säkularen sunnitischen, muslimisch-arabischen Regime zu destabilisieren. Sie hoffen das direkt oder in Kooperation mit dem sunnitisch-fundamentalistischen Regime im Sudan zu erreichen, ebenso über die verschiedenen militant-islamischen Organisationen in der arabisch-muslimischen Welt und ihren Schwestergesellschaften im Westen“, sagt er.
Obwohl im Westen weithin geglaubt wird, es gebe in Irans islamischem Regime zwei gegnerische Strömungen, verficht Abir, dass sie sich in ihrer fundamentalistischen Ideologie nicht unterscheiden. „Rafsandschani ist nicht weniger extremistisch als seine Gegner, aber er ist auch Pragmatist“, sagt er. „Er ist bereit sich den Umständen zu beugen und will westliche Technologie und Investitionen für sein Land erwerben, um seine wirtschaftliche Macht und militärischen Fähigkeiten zu verbessern, während der Lebensstandard verbessert wird.“
Dieser Pragmatismus ist allerdings eine Taktik, die neben den traditionellen Insignien des schiitischen Regimes existiert, wie sie von seinem Mentor, dem verstorbenen Ayatollah Khomeini propagiert wurden. Sein Propaganda- und Indoktrinierungsbüro Da’wa ist für alle zwielichtigen Operationen verantwortlich. Der Iran nutzt es, um per Terrorismus und Subversion „das Wort Allahs auszubreiten“.
„In der Tat steckt Rafsandschanis Regime hinter starken Bemühungen der letzten Jahre muslimische Regime zu ‚islamisieren‘“, sagt Abir und stellt fest: Solange ein fundamentalistisches Regime im Iran die Macht behält, wird sich die Lage nicht dramatisch ändern. „Irans erstes Ziel ist die schwächeren pro-westlichen arabischen Regime zu untergraben“, sagt er. „Man hilft einheimischen sunnitischen Fundamentalistengruppen mit finanzieller Unterstützung, Training für Terroristen, Hilfen für Guerillakämpfer und der Lieferung von Waffen und Sprengstoff.
Rafsandschani beabsichtigt weiterhin die Ziele der islamischen Revolution seines Mentors zu erreichen, aber er ist derart Pragmatist, dass er sich bemüht auf der Seite des Westens zu überleben. Anders als seine Gegner sucht er nach Möglichkeiten seine Ziele zu erreichen, aber die Konfrontation mit dem Westen zu vermeiden.
Viele Experten und einige Regierungen im Westen, insbesondere Deutschland, sind völlig verwirrt“, klagt Abir an. „Viele nehmen nicht nur an, dass Rafsandschani Pragmatist ist, sondern dass er bereit ist sich der Wirklichkeit anzupassen und dem Iran letztlich zu gestatten sich der ‚zurechnungsfähigen‘ Gemeinschaft der Nationen wieder anzuschließen. Das ist völlig falsch.“
Abir zeigt auf die grundlegenden Widersprüche in Rafsandschanis Philosophie: „Man kann wissenschaftliche und technologische Fortschritte nicht von der westlichen Zivilisation isolieren, die diese hervorgebracht haben. Nichtsdestotrotz ist der von muslimischen Fundamentalisten dem Westen erklärte Krieg ein Krieg der Zivilisationen.“
Er vermerkt, dass die lange vertretene gängige Meinung dabei blieb, dass stark besiedelte, arme Länder der Dritten Welt mit sehr hohen Geburtenraten keine Hoffnung hätten ihr Los zu verbessern. Indien hat diese düsteren Vorhersagen widerlegt. Trotz seines Bevölkerungswachstums ist das Pro-Kopf-Einkommen in Indien im Rahmen seiner Gesamtentwicklung beträchtlich gestiegen. China ist ein weiteres herausragendes Beispiel.
Abir vertritt die Meinung, dass China und Indien beweisen, dass Länder der Dritten Welt Hoffnung haben und sich entwickeln können. Doch die Apathie der islamischen Welt und ihre Feindseligkeit gegenüber dem Westen verhindern, dass ein riesiger Teil der Weltbevölkerung sich der modernen Wirtschaft und Technologie anpasst, ebenso ihrer Modernisierung. Stattdessen suchen sie ihr Heil in islamischen Modellen aus dem siebten Jahrhundert.
Wenn sie sich der modernen Welt anpassten, müssten die Muslime ihre kulturellen Grundwerte nicht aufgeben. Doch solange sie ihre fremdenfeindliche, antiwestliche Einseitigkeit nicht überwinden, versichert Abir, werden die meisten muslimischen Staaten kaum die Armut und das Chaos besiegen. „Die Habenichtse sind nicht in der Lage ihren wirtschaftlichen Niedergang ohne größere Finanzhilfe der Ölproduzenten oder des Westens aufzuhalten, die in absehbarer Zukunft eher nicht zunehmen werden“, sagt er.
Als wollte er demonstrieren, dass diese Irrationalität nicht gemeinsam mit der Suche nach Entwicklung existieren kann, deutet Abir auf den Irak unter Saddam Hussein. „Ironischerweise war dies das einzige ölreiche Land mit einer ansehnlichen Bevölkerung und einer breit gefächerten Wirtschaft, die beträchtliches Wirtschaftswachstum durch Öleinkommen hatte“, sagt er. „Doch das war, bevor er 1980 in einen Krieg mit dem Iran verwickelt war und vor Saddams panarabischen, antiwestlichen und antiisraelischen Ambitionen.“ Seit diesem Krieg und Saddams folgenden militärischen Raubzügen ist die Wirtschaft des Irak fast völlig zerstört worden und wird viele Jahre brauchen um sich zu erholen.
Nach allen Einschätzungen Abirs und seinem Überblick über die Situation der gesamten muslimischen Welt stellt sich die unausweichliche Frage: Was bedeutet das alles für Israel?
„Die Schlussfolgerungen sind sehr betrüblich“, sagt er. „Die pazifistischen Elemente in der israelischen Regierung gewannen die Oberhand und sie verhandeln mit der PLO über die palästinensische Autonomie, was wahrscheinlich zur Gründung eines Palästinenserstaates führt. Wenn das geschieht, ist fraglich, ob die PLO in der Lage sein wird einen Prozess zu kontrollieren, der überall in der arabisch-muslimischen Welt im Gang ist: dem Aufstieg des Fundamentalismus. Solcher Fundamentalismus – oder Ultranationalismus – könnte sich sogar unter den israelischen Arabern ausbreiten, deren Verbindungen zu ihren Vettern stärker als je zuvor sein wird.
Wir sehen den Anfang eines Prozesses“, sagte er. „Die Macht des Fundamentalismus in den Gebieten ist im Steigen begriffen. Er hat sich aus dem Gazastreifen in die Westbank ausgebreitet und bringt dem Kampf gegen den jüdischen Staat neu gefundenen Elan.“ Er verweist auf ein im Fernsehen ausgestrahltes Interview mit Scheik Yassin, den Gründer der Hamas-Bewegung, das vor ein paar Jahren geführt wurde, außerdem auf jüngste Äußerungen der Hamas und von Führern des Islamischen Jihad. Alle lehnen das Existenzrecht des jüdischen Israel auf Land ab, das sie waqf nennen, Teil einer religiösen Schenkung. Sie fordern weiter einen unaufhörlichen heiligen Krieg – Jihad – zur Vernichtung Israels.
„Scheik Yassin sagte, er habe nichts gegen die Juden und akzeptiere sie als dhimmis – eine tolerierte Gemeinschaft ohne politische Rechte“, sagt Abir. „Sie wurden in den muslimischen Gemeinschaften in der Vergangenheit immer gut geschützt und behandelt. Dieser Dhimmi-Status ist genau das, was einige alt eingesessene Israelis von einem potenziellen Palästinenserstaat erwarten können, aber Neuankömmlinge werden in ihre Herkunftsländer deportiert werden, sobald die Araber das politische jüdische Gemeinwesen zerstören. Das Volk des Buches kann als Gemeinschaft ohne politische Rechte in Sicherheit in einem islamischen Staat leben.“
Obwohl Scheik Yassin beabsichtigt haben dürfte, dass seine Worte beruhigend klingen – immerhin will er die Juden nicht beseitigen – interpretiert Abir ihn so nicht. Er glaubt, Bemühungen die Verhandlungen mit den von Arafats PLO-Fraktion repräsentierten Palästinensern auszudehnen, die klar zur Gründung eines Palästinenserstaats führen werden, dürften sich als Schritt über den Punkt hinaus erweisen, an dem es kein Zurück mehr gibt.
Abir spricht offen von seiner Befürchtung, dass die von pazifistischen Vertretern Israels unternommenen Schritte praktisch den Weg zur Gründung eines PLO-Staats in der Westbank ebnen. Er hat wenig Zweifel, dass ein solcher Staat von Fundamentalisten und/oder sich verweigernden Nationalisten übernommen wird.
„Nehmen wir an, dass die Hamas sich aus taktischen Gründen heraushält und der von Arafat geführte Mainstream-PLO-Palästinenserstaat gegründet wird“, sagt er. „In einer zweiten Phase wird die Hamas die Macht übernehmen. Der derzeitige Trend ist, dass die Massen – besonders diejenigen, die wirtschaftlich leiden – zunehmend den Fundamentalisten folgen.
In der Tat könnte ein Palästinenserstaat ohne die riesigen Ressourcen, die nötig sind, um die Probleme seiner Bevölkerung und der Palästinenser in der Diaspora zu lösen, eine sehr schwierige Wirtschaftskrise durchmachen. Er wird von unfreundlichen arabischen Regimen und Israel umgeben sein, außer er schafft eine Art Union mit Jordanien zu bilden und erhält substanzielle Hilfe.
Darüber hinaus, stellt er fest, lebt nur die Hälfte des palästinensischen Volks in der Westbank und dem Gazastreifen, viele davon in Flüchtlingslagern. „Was wird mit den 2 bis 2,5 Millionen Palästinensern geschehen, die sich außerhalb befinden und ihre Identität bewahren?“, fragt er. „Sie leben in Lagern in fast allen arabischen Ländern oder in anderen Teilen der Welt, verschmäht von ihren arabischen Brüdern.
Für sie wird der Krieg nicht vorbei sein, da sie in den 6000 Quadratkilometern der Westbank und des Gazastreifens – wo die Bevölkerung bald die Zahl von einer Million Menschen betragen wird – keinen Platz haben werden; sie werden auf dem „Rückkehrrecht“ (awda) nach Akko, Jaffa, Aschdod und Westjerusalem bestehen. Kann Arafat solche Forderungen auffangen? Will er das ernstlich? Man kann sich den Fall des Libanon und seiner politischen Auswirkungen ansehen.
Ich kann eine solche Lösung als überhaupt nicht praktisch ansehen“, sagte er rundheraus, „außer es wird irgendeine Zauberformel gefunden das Problem mit allen Palästinensern zu lösen. Andernfalls wird der innere Druck weiter bestehen Israel zu überrennen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt.“
Er sieht allerdings keine andere Alternative. „Die beste Lösung für das palästinensische Volk wäre es, wenn das haschemitische Königreich fällt“, sagte er. Jordanien, das eine mehrheitlich palästinensische Bevölkerung hat, wird ein Palästinenserstaat mit einem Ableger in der Westbank und dem Gazastreifen werden. Eine weitere, aber problematischere Alternative wäre eine jordanisch-palästinensische Föderation.
Israel muss sich um seine eigenen Interessen kümmern und daher auf Sicherheitsarrangements bestehen, die seine Existenz garantieren“, sagt er. „Ist ein Palästinenserstaat erst einmal gegründet – oder auch nur eine autonome Region – dann wird er vom internationalen Recht und internationalen Organisationen geschützt. Israels Möglichkeit seine Bevölkerung und seine Sicherheit zu schützen wird dann eingeschränkt sein.
Die jordanische Lösung wird den Palästinensern eine ausreichende territoriale Basis geben“, führt Abir fort. „Solch ein palästinensisches Jordanien könnte gemeinsame Wasserressourcen mit Israel und groß angelegte gemeinsame Entsalzungsprojekte haben. Es könnte vielfältige gemeinsame Projekte geben, von denen beide Länder profitieren.
Selbst eine jordanisch-palästinensisch-israelische Wirtschaftsföderation ist möglich“, sagt Abir. Diese könnte bedeutsame arabische und internationale Investitionen anziehen, die das Problem zu lösen helfen.
Die palästinensisch-jordanische Einheit würde eine Flagge, eine Armee und eine Luftwaffe östlich des Jordan haben“, sagt er. „Sie hätte in Aqaba einen Zugang zum Meer, was auch für den Irak von Bedeutung wäre. Es gäbe zudem einen von Israel kontrollierten Korridor in den Gazastreifen und zu anderen Mittelmeerhäfen.
Die Einheit würde einen viel höheren Bildungsstand haben als die Golfstaaten und könnte ein wichtiger Teil der Entwicklung der arabischen Länder werden und von solchen Verbindungen profitieren. Viele Joint Ventures werden bereits vorgeschlagen und viele weitere werden entstehen, wenn die Friedensverhandlungen Frucht tragen und eine jordanisch-palästinensische Einheit schaffen.“
Das Land würde, gibt Abir an, beträchtliches Einkommen aus Öl- und Gas-Pipelines erhalten, die aus Saudi-Arabien, dem Golf, dem Irak und Syrien das Land passieren. Es könnte auch ein Durchgang für Handel von Israel mit der arabischen Welt und zur Verbindungsstelle zu israelischer Technologie in verschiedenen Bereichen sein.
„Ein solches Land könnte echte wirtschaftliche Erwartungen und eine realistische politische Überlebenschance haben, ohne bald auf Krieg zurückgreifen zu müssen“, sagt Abir.
Das ist ein ziemlich rosiges Bild, aber Abir betont, dass dies nur mit einer aus dem Friedensprozess entstehenden palästinensisch-jordanischen Föderation oder wenn Jordanien eine palästinensische Heimat wird Realität werden kann. Während Fundamentalismus und andere ultra-nationalistischen Bewegungen weitermachen, bleibt er dabei, dass sie nicht die von ihnen gewollte Macht erwerben dürfen, wenn ein unabhängiger Palästinenserstaat in den Gebieten entsteht.
„Meine Meinung ist das Ergebnis des Studiums der Weltgeschichte der Muslime“, erklärt Abir. „Zu einem großen Teil ist der Erfolg des Fundamentalismus weniger Ergebnis politischer Unzufriedenheit, als eher der wirtschaftlichen Not. Die muslimische Welt erlebt Wellen steigenden Fundamentalismus. Im Islam gab es immer fundamentalistische Tendenzen und es wird sie immer geben. Die einzige Frage ist, wie mächtig sie sein werden.“
Er kehrt zum Beispiel des Iran zurück und sagt: „Paradoxerweise bot der Fundamentalismus keine Antwort auf die sozioökonomischen Probleme des Iran. Der Lebensstandard der iranischen Bevölkerung ging unter dem verstorbenen Schah zurück. Nur fünf Prozent lebten in Saus und Braus. Es überraschte nicht, dass die ungebildeten Menschen, die oft Pachtbauern waren, nach einer fundamentalistischen Lösung suchten.
Sie sind fromme Muslime. Auf die gleiche Weise generiert das Elend in Ägypten Unterstützung für militanten Fundamentalismus. Doch 14 Jahre nach der islamischen Revolution ist die Wirtschaft des Iran ein Trümmerhaufen und der Lebensstandard seiner urbanisierten Massen wie auch seiner Landbevölkerung ist noch schlechter als in der Vergangenheit und geht weiter bergab.“
Bevor Israel ein endgültiges und bindendes Abkommen mit den Palästinenser und seinen Nachbarn eingeht, drängt Abir seine Führung nicht zu vergessen, was heute den christlichen Minderheiten in „säkularen“ muslimischen Staaten geschieht. Ägypten – das er ungeachtet der christlichen Teile des Libanon als den säkularsten Staat der arabischen Welt bezeichnet – ist nicht in der Lage gewesen den Hass der fundamentalistischen Muslime auf die Kopten zu bekämpfen, die echte Überreste der ursprünglichen ägyptischen Bevölkerung sind. Die Christen im Libanon haben das Menetekel gesehen, seit es ihnen Anfang der 1980-er Jahre nicht gelang einen christlich dominierten Libanon oder ein teilunabhängiges Gebilde in ihrem Teil des Berglands des Libanon zu gründen.
Im säkularen Ägypten von heute genießen Kopten und Muslime theoretisch gleiche Rechte“, sagt er. Dennoch nimmt die Zahl der Kopten stetig ab; das ist eine Folge der weit verbreiteten, verdeckten Diskriminierung und vor allem der zunehmenden Verfolgung durch muslimische Fanatiker. „Die muslimischen Massen lehnen es ab eine Dhimmi-Gemeinschaft als gleichberechtigt zu akzeptieren“, erklärt er.
Manchmal nehmen Personen aus diesen Dhimmi-Gemeinschaften hohe Positionen in der öffentlichen Verwaltung und an anderen Stellen ein. Muslime sind ihnen unterstellt. Das ist für den Durchschnittsmuslim absolut verwerflich. Im ländlichen Ägypten, wo die Menschen ungebildet und rückständig sind, ist die Lage für den Erfolg der fundamentalistischen Propaganda gegen die Kopten noch dienlicher. Diese zunehmende sozio-religiöse Spannung in ländlichen Gegenden und Provinzstädten bricht oft in Pogrome und blutige Zusammenstöße aus, von denen die Regierung feststellt, dass sie sie kaum kontrollieren kann.
Während muslimische Fundamentalisten sich in Oberägypten, Kairo und dem Nildelta ausbreiten, wo viele Fundamentalisten leben, sind viele Kopten zu dem Schluss gekommen, dass die einzige Lösung die Auswanderung ist. Wir kennen die genauen Zahlen nicht, da dies in Ägypten ein sensibles politisches Thema ist, doch sie repräsentierten vermutlich immer 7 bis 9 Prozent der Bevölkerung Ägyptens. Es gibt ansehnliche koptische Gemeinden in New York, Chicago, Kanada und weiteren Orten in Amerika. Die libanesischen Maroniten sehen auch das Menetekel und im Verlauf der letzten 20 Jahre sind Hunderttausende nach Amerika und Europa ausgewandert.
Für Abir sind die Lektionen klar. Israels Führungspolitiker müssen sich der traurigen Realitäten des Nahen Ostens der Gegenwart und der vor uns liegenden schicksalhaften Jahre bewusst sein, warnt er, und sie müssen bemüht sein, tödliche Fehler in den Verhandlungen mit den benachbarten arabischen Staaten und den Palästinensern vermeiden. Vor allem muss Israel seine vitalen Interessen und die Fähigkeit sich zu verteidigen aufrecht erhalten.
„Wir müssen das Risiko eines PLO-Staates in den Gebieten im Auge behalten, der sich schlussendlich in einen fundamentalistischen Palästinenserstaat verwandeln könnte, der dem jüdischen Staat jegliches Existenzrech in seiner Mitte abspricht“, schließt er.
(Dieser Aufsatz wurde hier erstmals im August 2014 in drei Teilen eingestellt.)