Auf ins Getümmel: Die Chamberlainisierung der israelischen Politik

Über fortdauernde Abnutzung seitens der Araber und Kapitulation seitens der Juden ist, was einst undenkbare Zugeständnisse waren, zu politischen Geboten geworden

Martin Sherman, Jerusalem Post, 26. Februar 2015

Wir betrachten die letzte Nacht unterzeichneten Abkommen als symbolisch für den Wunsch unserer beiden Völker an, niemals in den Krieg miteinander wieder zu gehen… Ein britischer Premierminister ist aus Deutschland zurückgekommen und bringt Frieden mit Ehre. Ich glaube, es ist Frieden für unsere Zeit.
– Neville Chamberlain, 1938, nach der Unterzeichnung des Münchener Abkommens mit Hitler.

Sie hatten die Wahl zwischen Krieg und Schande, sie haben sich für die Schande entschieden und werden trotzdem den Krieg bekommen.
– Winston Churchill, 1938, nach der Unterzeichnung des Münchener Abkommens mit Hitler.

Im Krieg gibt es, welche Seite auch immer sich als Sieger erklärt, keine Gewinner … Alle verlieren … Wir sollten mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln danach streben Krieg zu vermeiden, indem wir die möglichen Ursachen analysieren, sie zu beseitigen versuchen, durch Diskussion im Geist der Zusammenarbeit und des guten Willens … selbst wenn das die Etablierung von persönlichen Kontakten mit den Diktatoren bedeutet.
– Neville Chamberlain, 1938

Sie fragen wie unsere Politik aussehen wird. Ich sage: Sie besteht darin Krieg zu führen, auf See, am Land und in der Luft, mit all unserer Macht und mit aller Stärke… Krieg gegen eine monströse Tyrannei zu führen… Sie fragen, was unser Ziel ist. Ich kann mit einem einzelnen Wort antworten: Sieg. Sieg um jeden Preis, Sieg trotz allen Terrors, Sieg, wie lange und hart der Weg auch sein mag. Denn ohne Sieg wird es kein Überleben geben.
– Winston Churchill, 1940.

Seit den späten 1960-er Jahren, nach dem durchschlagenden militärischen Sieg im Sechstagekrieg, hat die israelische Politik eine heimtückische Wandlung durchlaufen. Der Verlauf war allmählich, kaum wahrnehmbar bis Anfang der 1990-er Jahre, als die Metamorphose in eine massive Metastasenbildung mutierte.

Vom vielgepriesener Tugend zu geschmähtem Laster

Das Ergebnis ist ein atemberaubender Umbruch der Führung des politischen Diskurses, des Wesen der akzeptierten/akzeptablen politischen Auffassungen und der Bewertung existierender/gewünschter politischer Ergebnisse gewesen, der sie alle im Verhältnis zu denen, die Jahrzehnte davor vorherrschten, praktisch nicht wiederzuerkennen machte.

Die Oslo-Vereinbarungen von 1993, in denen Israel zustimmte die terroristische PLO als legitimen Verhandlungspartner zu akzeptieren, war eine dramatische Unterbrechung in der Evolution des Zionismus. In der Tat erlebten wir eine tiefgreifende Veränderung des politischen Prozesses in Israel, in dem alles, was danach kam, qualitativ anders – oft diametral entgegengesetzt zu dem – war als das, was vorher kam.

In meiner Kolumne „Religion of Retreat“ (26. Juni 2014) stellte ich fest: „Die Oslo-Prozesse verzerrten nicht nur den Gründungsethos des Zionismus gröblich, sich stellten sein Wesen auf den Kopf und kehrten den Tenor der fundamentalen Prinzipien des Zionismus um. Was einst als Tugend gepriesen wurde, wurde als Laster verunglimpft – und umgekehrt. Damit wurde das vorher bestehende Tabu palästinensischer Eigenstaatlichkeit zu einer akzeptierten, sogar bevorzugten Option der Mainstream-Politik. Um diesen ideo-intellektuellen Salto zu rechtfertigen, begannen seine Architekten einen Ansatz – oder eher ein Syndrom – auszubrüten, das die Abtretung von Heimatland und Preisgabe von Verwandten zu den erhabensten der aufgeklärten Werte erhob, während man jedes Zeichen selbstbewusster Befürwortung jüdischer Identität oder Solidarität als „ethnokratischen Rassismus“ verleumdete.

Vom trotzigen „David“ zum gefügigen „Goliath“

Heute, fast ein Vierteljahrhundert nach dem fatalen Machwerk der schädlichen Osloer Gebräus, das in der sogenannten Prinzipienerklärung (aka Olso I) auf dem Rasen des Weißen Hauses im September 1993 gipfelte, ist Israel ein enorm anderer Ort – nicht nur in Begriffen äußerlicher physischer Erscheinung, sondern in Begriffen der inneren geistigen Kraft. Es scheint eine reziproke Beziehung zwischen der Höhe und Opulenz der Unzahl aufragender Hochhäuser, die in Städten überall auf der Welt hochschießen, und dem Grad an Nationalstolz und Selbstwertgefühl zu geben, mit dem sich Israel auf der internationalen Bühne bewegt.

Paradoxerweise scheint es, während die äußeren Zeichen materiellen Erfolgs sich vervielfältigen, einen abnehmenden Glauben an die Fähigkeit der Nation zu geben ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Je größer der wirtschaftliche Reichtum und technologische Fortschritt, desto schwächer anscheinend sein Wille seine Recht als souveräner Staat auszuüben.

Israel scheint sich selbst zunehmend weniger und weniger als winziger, aber wagemutig trotziger „David“ zu sehen (und erlaubt es anderen es so zu sehen), sondern mehr und mehr als gefügigen „Goliath“, der für Druck anfällig ist, immer empörendere Forderungen duldet, die seinen nationalen Interessen deutlich schaden – in dem verzweifelten Versuch nicht als kompromisslos zu erscheinen.

Aber natürlich ist die Erfüllung solcher Forderungen zwangsläufig kontraproduktiv, denn es macht Lust auf mehr und mehr weitreichende Forderungen – und verstärkt ungeduldige Erwartungen, dass auch sie unverzüglich befolgt werden.

Schiefe Ebene…

Im ersten Band seiner epischen Serie über den Zweiten Weltkrieg zeichnete Winston Churchill die Kette der Vorgänge nach, die die Appeasementpolitik der Regierung Chamberlain direkt vor dem deutschen Einfall in Polen angerichtet hatte: „Schauen Sie zurück und sehen Sie, was wir nacheinander akzeptiert oder weggeworfen hatten: ein durch einen feierlichen Vertrag entwaffnetes Deutschland; ein in Verletzung eines feierlichen Vertrags wiederbewaffnetes Deutschland; Luftüberlegenheit und sogar Gleichheit in der Luft weggeworfen; das Rheinland gewaltsam wieder besetzt und die Siegfriedlinie aufgebaut oder im Bau; die Achse Berlin – Rom eingeführt; Österreich vom Reich verschlungen und verdaut; die Tschechoslowakei durch das Münchener Abkommen im Stich gelassen und ruiniert; seine Festungslinie in deutscher Hand, sein mächtiges Arsenal stellte von Skoda von nun an Munition für die deutschen Armeen her… die Dienste von 35 tschechischen Divisionen gegen die immer noch unreife deutsche Armee weggeworfen… alles vom Winde verweht.“

Er beklagte die Torheit und die unvermeidbaren Folgen dieser Politik: „… wenn man nicht kämpft, wenn man leicht ohne Blutvergießen gewinnen kann; wenn man nicht kämpft, wenn der eigene Sieg sicher ist und nicht allzu viel kostet; dann erreicht man den Augenblick, an dem man kämpfen muss, wenn alles gegen einen selbst spricht und es nur eine bedenklich geringe Chance aufs Überleben gibt…“ Er warnte eindringlich vor den „falschen Urteilsbildungen, die von gut meinenden und fähigen Menschen gebildet werden“, um die Tragödie zu begünstigen, die er richtig vorhersah, die das Ergebnis ihrer vergeblichen Versuche war, Diktatoren durch Entgegenkommen bei ihren Forderungen zu beschwichtigen.

Verderbliche Parallele

Israelische Führungspolitiker würde es gut anstehen die Lektionen zu befolgen, die aus den katastrophalen Konsequenzen zu lernen sind, in denen ständige Zugeständnisse und Kapitulation gipfelten, denn ein ähnlicher Prozess hat die israelische Politik in ihrem Kamp ihre tyrannischen arabischen Gegner zufriedenzustellen befallen.

Diese verderbliche Parallele wird von Yitzhak Rabins letzter Rede in der Knesset (5. Oktober 1995) vor seiner Ermordung in reine Erleichterung gesteckt. In der Ansprache, in der er sich um parlamentarische Ratifizierung des Olso II-Abkommens bemühte, legte er seine Vision für die dauerhafte Vereinbarung mit den Palästinensern dar.

Unter Zurückweisung der inzwischen bekannten Beschreibung Obamas beteuerte er kategorisch: „Wir werden nicht auf die Linien vom 4. Juni 1967 zurückkehren.“

Er lehnte die Vorstellung eines souveränen Palästinenserstaats ab; dazu sagte er: „Zu einer dauerhaften Lösung wird eine palästinensische Einheit gehören, die weniger als ein Staat ist.“

Rabin fuhr dann fort einige der Hauptänderungen zu beschreiben, „die wir uns vorstellen und in einer dauerhaften Lösung haben wollen.“

Zu Jerusalem: „Vor allem ein vereintes Jerusalem, einschließlich sowohl Ma’ale Adumim und Givat Ze’ev, als Hauptstadt Israels, unter israelischer Souveränität.“

Zum Jordantal: „Die Sicherheitsgrenze des Staates Israel wird im Jordantal liegen, im weitesten Sinne dieses Begriffs.“

Zu Siedlungen: Veränderungen, die die Hinzufügung des Gush Etzion, von Efrat, Betar und anderen Gemeinden einschließen, von denen die meisten im Gebiet östlich dessen liegen, was vor dem Sechstage-Krieg die Grüne Linie war.

Und vielleicht am bedeutendsten: „Die Gründung [neuer] Siedlungsblöcke in Judäa und Samaria wie denen im Gush Katif“ – der in der Folge durch Ariel Sharons Gaza-Abkoppelung 2005 zerstört wurde.

Einst unvorstellbare Zugeständnisse; heute politische Zwang

Wie ich bereits in früheren Kolumnen aufgezeigt habe (s. z.B. „A hijacked ‚heritage‘“ vom 17. Oktober 2013), in denen ich auf diese Rede verwies, ist sie aus einer Reihe von Gründen bemerkenswert.

Erstens wurde sie, wie bereits erwähnt, direkt vor seiner Ermordung gehalten und war als solche sein letztes öffentliches Rezept für eine dauerhafte Lösung des Konflikts mit den Palästinensern.

Darüber hinaus wurde sie nicht nur gehalten, nachdem er den Friedensnobelpreis erhielt und international als „kühner Kriege für den Frieden“ gepriesen wurde, sondern sie vermittelte der israelischen Öffentlichkeit den Ausgang, den sie auf der Höhe des Oslo-Prozesses erwarten sollten. Schließlich sollte man sich noch daran erinnern, dass diese damals von Rabin formulierte Oslo-konforme Position als radikaler Linksruck betrachtet wurde, der Zugeständnisse zum Inhalt hatte, die vor seiner Wahl 1992 nicht nur undenkbar waren, sondern völlig inkompatibel mit dem Wahlprogramm war, das er den Wählern vorgelegt hatte.

Doch trotz all dem; trotz der Tatsache, dass die Oslo-Formel, wie sie von Rabin vorgelegt wurde, von einem Großteil der Wählerschaft als übertriebenes – sogar inakzeptables – Zugeständnis betrachtet wurde; trotz der Tatsache, dass sie in der Knesset nur mit der Stimme eines bald darauf als Drogen schmuggelnden Betrügers (der damalige MK Gonen Segev) ratifiziert wurde, würden Benjamin Netanyahu und seiner Regierung, legten sie sie im aktuellen politischen Klima im Wortlaut vor, als unvernünftige, unrealistische Verweigerer abqualifiziert.

Damit wurde durch einen anhaltenden Abnutzungsprozess der Araber einerseits und der Kapitulation der Juden andererseits, das, was einst unvorstellbare Zugeständnisse waren, als politische Gebote für jede vorstellbare Ausgestaltung einer Lösung des Konflikts mit den Palästinensern wahrgenommen.

Nutzlosigkeit der Salbung

Wie vorhergesehen werden konnte, taten die zu Oslo gehörenden Zugeständnisse wenig, um die Sache des Friedens voranzubringen oder palästinensische Beschwerden zu vermindern. Weitgehende Angebote durch Ehud Barak und Ehud Olmert, die praktisch alle palästinensischen Forderungen duldeten, wurden zurückgewiesen oder ignoriert, nur um mehr gewalttätige Flächenbrände herbeizuführen.

Weitere vermittelnde Gesten durch Netanyahu – dass er palästinensische Eigenstaatlichkeit akzeptierte, die Bautätigkeit in Judäa-Samaria einfror, die nicht erwiderte Freilassung verurteilter Terroristen – nutzten nichts, weder beim voranbringen substanzieller Vereinbarungen mit den Palästinensern, noch bei der Vorbeugung in Sachen seines Images als Verweigerer in der internationalen Gemeinschaft.

Letzte Woche lieferte Sarah Honig von der Jerusalem Post mit ihrer übliche Eloquenz und Wahrnehmungsvermögen eine vernichtende Anklage der sich selbst behindernden – gar selbstzerstörerischen – Unterwürfigkeit, die so viele im israelischen politischen Establishment ergriffen hat; sie sind bereit sich selbst, ihr Volk und ihr Land zu gefährden, in dem verzweifelten Bemühen andere nicht zu ärgern.

In Konzentration auf die innerisraelische Kritik an Netanyahus Annahme der Einladung bei einer gemeinsamen Sitzung des Kongresses zu sprechen, um seine gewichtigen Bedenken bezüglich der Gefahren zu vermitteln, die das entstehende Abkommen zum iranischen Atomprogramm mit sich bringt, kommentierte sie bitter: „Man kann den Juden aus der Diaspora holen, aber nicht die ganze Diaspora aus allen Juden. Israels Linke und ihre Medien-Sprachrohre sind Paradebeispiele.
Man hört sie sagen, Premierminister Benjamin Netanyahu habe auf unverzeihliche Weise die Edlen vom Oval Office verärgert. Es sei Netanyahus Pflicht selbstzerstörerisch zu sein, um seinen Boss zufriedenzustellen.“

Es scheint, dass Chamberlain in einflussreichen politischen Kreisen in Israel lebt und wohlauf ist.

Kapitulation wird als Strategie verkauft

Erstaunlicherweise und nicht abgeschreckt von arabischer Unnachgiebigkeit sind die israelische Anhänger der Chamberlainesken Politik des politischen Appeasements und territorialen Rückzugs in ihrer obsessiven und vergeblichen Verfolgung eines nicht erreichbaren Friedensabkommens jetzt mit einem noch radikaleren Vorschlag daher gekommen. Obwohl viele in der israelischen Linken am Erreichen einer solchen Vereinbarung über bilaterale Kontakte mit den Palästinensern verzweifelt sind, haben sie jetzt einen neuen und riskanteren Plan umarmt – der ursprünglich Saudischer Friedensplan hieß und inzwischen als die arabische Friedensinitiative bekannt ist.

Die Initiative ist in der Tat ein Dokument der Kapitulation vor den Arabern, das alles Erreichte des Sechstagekriegs von 1967 und sogar einiges des Unabhängigkeitskriegs von 1948 auslöscht. Sie widerspricht jedem einzelnen Element der von Rabin damals genannten Verordnung. Sie fordert: (1) Israel kehrt zu den Linien von 1967 zurück – mit oder ohne beträchtlichen Landtausch; (b) die Teilung Jerusalems; (c) die Räumung des Golan; und d) eine „gerechte Regelung“ des palästinensischen Flüchtlings-„Problems“.

Kurz gesagt: Sie ist eine transparente Blaupause für die schrittweise Vernichtung des jüdischen Staates, was die Tatsache, dass sie – zusammen mit der lächerlichen Vorstellung einer „regionalen Lösung“ – von fast 200 hochrangigen Sicherheitsexperten als „strategische Initiative“ begrüßt worden ist, um so peinlicher. Doch mehr zu der arabischen Friedensinitiative und der „regionalen Lösung“ in den kommenden Wochen.

Historiker werden verwirrt sein

Gestatten Sie mir mit einem weiteren Auszug von Churchill zu schließen. Er warnte: „Wenn eine moralische Katastrophe die britische Nation und das britische Empire übernehmen sollte, werden die Historiker in tausend Jahren immer noch von dem Mysterium unserer Angelegenheiten verwirrt sein. Sie werden niemals verstehen, dass eine siegreiche Nation, die alles in der Hand hatte, sich selbst derart herunterziehen und alles wegwerfen konnte, das sie durch unermessliche Opfer und absoluten Sieg gewonnen hatte.

Dasselbe gilt für Israel.