Für Postmodernismus geht Identität vor Vernunft

Vic Rosenthal, Abu Yehuda, 20. September 2020

Vor vielen Jahren, während der Moderne (im Gegensatz zur „Postmoderne“, in der wir heute leben), hatte ich einen Job, zu dem es gehörte elementare Logik zu lehren. Beim wahrscheinlich wichtigsten Thema ging es um informelle Trugschlüsse, diese übel überzeugenden Argumentationstricks, die farbenfrohe Namen wie „kein wahrer Schotte“, „Motte und Baily“ und „Roter Hering“ (Ablenkungsmanöver) haben. Einer meiner Lieblinge ist eine Form des an der eigentlichen Frage Vorbeigehens (unter der Annahme, Sie wollen etwas beweisen). Ich nenne sie den Irrtum der Unwiderlegbaren Behauptung.

Was ist eine unwiderlegbare Behauptung? Ein Beispiel ist die Äußerung von Anhängern der Schriftstellerin Alisa Rosenbaum (allgemein bekannt als Ayn Rand), das einzig rationale Motiv für menschliches Handeln sei Eigeninteresse. Antworten Sie mit Beispielen offensichtlich rationaler Selbstlosigkeit – der Milliardär, der sein Vermögen weggab, Mutter Teresa usw. – lautet die Antwort, dass der psychische Wert ihres Handelns für diese Einzelpersonen größer war als der Wert des Geldes oder der Annehmlichkeiten, die sie opferten. Es lag in ihrem eigenen Interesse sich gut zu fühlen und zu opfern ließ sie sich gut fühlen.

Egal, was man als Beispiel anführt, der Argumentierende wird subtil Selbstinteresse umdefinieren, damit das eingeschlossen ist. Die Möglichkeit diesen Irrtum zu entlarven, besteht in der Frage: „Was würde als Gegenbeispiel zählen?“ Jeder Vorschlag mit empirischem Inhalt – also etwas, das etwas Neues über die Welt ausdrückt – muss von Fakten unangenehm gemacht werden können. Wenn es keine vorstellbare Tatsache gibt, die ihn als falsch erweisen könnte, deutet das darauf hin, dass es kein Vorschlag zur Welt ist – sondern, dass es um die Bedeutung der Worte darin geht.

Wenn also Ihr Freund mit einem Gegenbeispiel kommt, wenn es keine vorstellbaren Fakten gibt, die es falsifizieren könnten, dann wissen Sie, dass er „Eigeninteresse“ so definiert, dass alle rationalen Motive einbezogen werden. Mit anderen Worten: Er nimmt an, was er zu beweisen behauptet.

Ein weiteres Beispiel ist die unglückliche aktuelle Vorstellung von „weißer Zerbrechlichkeit“, in der die Aussage alle Weißen seien Rassisten nicht widerlegt werden kann, weil der Versuch das zu tun als prima facieBeweis für Rassismus gilt. Die zahlreichen privaten und öffentlichen Vorhaben, die gutes Geld dem Autor eines Buches zu dem Thema gezahlt haben, hätte  mich für weit weniger anheuern können, um zu erklären, warum die Unwiderlegbarkeit einer Äußerung in der Regel andeutete, dass sie Teil eines Zirkelschlusses ist.

Es gibt eine weitere Art unwiderlegbarer Aussagen, nämlich die Berufung auf private Tatsachen. Eine private Tatsache ist eine, die nur demjenigen zugänglich ist, der von ihr spricht und daher nicht widerlegt werden kann. Wenn ich zum Beispiel sage, dass ich gerade an schöne Blumen denke, kann niemand schlüssige Beweise liefern (zumindest beim aktuellen Stand der Hirnforschung), dass meine Äußerung falsch ist. Ich bin der einzige, für den mein Denken wahrnehmbar ist.

Eine private Tatsache zu äußern ist an sich nicht irreführend. Ich könnte in der Tat an schöne Blumen denken. Aber wenn eine private Tatsache sowohl als Erklärung der Welt, die Folgen haben könnte, und gleichzeitig als unwiderlegbare Äußerung dargestellt wird, dann schrillen die Alarmglocken. Man kann nicht beides haben: Entweder die Äußerung betrifft nur einen selbst und in diesem Fall kann sie nicht angefochten werden; oder es geht um die Welt und es könnte Belege geben, die dagegen sprechen, dass sie war ist.

Ein Beispiel: Angenommen, ich würde sagen, dass ich – ein neunfacher Großvater – in Wirklichkeit eine Frau bin. Ich könnte diese Aussage unterstützen, indem ich mich auf eine private Wahrnehmung meines Geschlechts berufe, die sich von meinem biologischen Geschlecht und der sozialen Rolle unterscheidet, die ich in den letzten 77 Jahren gespielt habe. Weil dieses Geschlecht von  niemand anderem wahrnehmbar ist, kann niemand meine Äußerung widerlegen. Ich bin der einzige, der wissen kann, ob sie wahr oder falsch ist.

Jemand könnte argumentieren, dass die Definition von „Geschlecht“, die ich zu nutzen scheine, sich vom allgemeinen Gebrauch dieses Wortes unterscheidet. Aber solange ich konsequent bin, habe ich keine Täuschung begangen. Das Logik-Problem kommt auf, wenn ich darauf bestehe, dass sich meine soziale Rolle in jeder Hinsicht ändern muss, angefangen mit Pronomen bis hin zu WC-Privilegien, sozial angemessener Kleidung und jeder anderen von Geschlechterrollen abhängigen Überlegung. In diesem Fall habe ich darauf bestanden, dass meine private Tatsache bezüglich des Geschlechts in Wirklichkeit eine empirische Tatsache nach dem Vorbild des biologischen Geschlechts ist. Es geht nicht einfach um mich selbst, sondern darum, dass es Folgen in der realen Welt hat. Und das ist irreführend.

Ich bringe das nur als Beispiel (meine volle Betrachtung des Transgenderismus findet sich hier). Beachten Sie, dass die Reaktion auf Einwände kein Versuch wäre die Logik zu rechtfertigen. Stattdessen bestünde sie darin zu sagen, dass jeder, der die Forderungen nicht akzeptiert, dass Gender-Erklärungen als wahr akzeptiert werden und dass es ernste Strafen in der realen Welt für jeden geben soll, der sie überschreitet, ein transphober Cis-Gender-Unterdrücker ist.

Was hier geschieht ist, dass viele Dinge, die den „nicht Woken“ als absurd erscheinen, tatsächlich aus einer einzigen ideologischen Wurzel sprießen: dem Postmodernismus von Lyotard, Foucault, Derrida und anderen. Das ist die Quelle für die Exzesse der politischen Korrektheit, Mikroaggressionen, Intersektionalität, Identitätspolitik, Transgenderismus, Postkolonialismus, Rassen- und Genderstudien, „Queer-Theorie“; moralischem, kulturellem und erkenntnistheoretischem Relativismus; die Ersetzung von Geschichte durch „Narrative“, Misstrauen gegenüber den Naturwissenschaften, Angriffen auf freie Meinungsäußerung, das Verschmelzen von Rede und Gewalt – ich könnte ständig immer weiter machen. Eine Ausstellung dieser Verbindungen aus liberaler Perspektive, die es durchaus wert ist gelesen zu werden, ist in einem aktuellen Artikel von Helen Pluckrose mit demTitel „How French ‘Intellectuals’ Ruined the West: Postmodernism and Its Impact, Explained“ [Wie französische Intellektuelle den Westen zugrunderichteten: Postmodernismus und seine Auswirkungen erklärt] zu lesen.

Um es stark zu vereinfachen: Postmodernisten glauben, dass es keine objektive Wahrheit gibt; was als solche dargestellt wird, ist Teil eines sozialen Konstrukts, das so gestaltet ist, dass es Gruppen an der Macht („Unterdrücker“) ermöglicht andere unterdrückt zu halten – besonders über „People of Color“, aber auch über Frauen, sexuelle und Gender-Minderheiten, Behinderte und andere. Wegen der Verbreitung der Narrative sind die Unterdrücker nicht in der Lage die Ansicht der Unterdrückten zu verstehen, egal, wie wohlmeinend sie sein mögen. Angewandt wurde das besonders von Edward Said in seinem Buch „Orientalismus“ auf die (nicht jüdischen) Völker des Nahen Ostens, vermutlich das beliebteste Einzelwerk in Lehrplänen der Nahoststudien-Fakultäten.

Identität steht in der postmodernen Theorie an erster Stelle. Was du bist, bestimmt, wo du hineinpasst, nach welchen Narrativen du lebst und natürlich, ob du ein Unterdrücker oder unterdrückt bist. Vielleicht erklärt dies die Wut, die sich gegen Jessica Krug und Rachel Dolezal richtet, die sich eine rassische Identität „aneigneten“, die ihnen nicht gehörte (obwohl es mit angeeignetem Geschlecht diesbezüglich keine Probleme zu geben scheint).

Postmodernisten lehnen die Aufklärungskonzepte hauptsächlich aus dem Grund ab, dass objektive Wahrheit, Toleranz gegenüber Widerspruch und Menschenrechten, stillschweigend von denen unter uns akzeptiert werden, die sich als Liberale oder Konservative bezeichnen. All diese werden als Artefakte eines unterdrückerischen Sozialsystems betrachtet. Selbst die Mathematik ist des Rassismus beschuldigt worden!

Das ist der Grund, dass Postmodernisten Argumente gegen Transgenderismus und weiße Zerbrechlichkeit (und so weiter) nicht ernst nehmen. Sie betrachten sie als schlichten Ausdruck des unterdrückerischen Narrativs, das sie alle gebar und die progressive Antwort besteht darin die Redner von einer Plattform auszuschließen oder zu „streichen“ oder sie (vielleicht in der nicht so weit entfernten Zukunft) in einen Gulag zu schicken.

Der Postmodernismus und seine Kinder Postkolonialismus, kritische Rassentheorie, Intersektionalität, Transgenderismus und alle die anderen sind Jahrzehnte lang in der Brust der akademischen Welt herangewachsen; aber wie die Kreatur aus Alien sind sie einfach in die Welt da draußen ausgebrochen. Obwohl die Ideologie mit internen Ungereimtheiten behaftet ist, betrachtet sie die Forderung nach Widerspruchsfreiheit nur als weiteres Mittel für Unterdrückung. Identität setzt Vernunft außer Kraft.

Man kann argumentieren, dass eine Kombination aus politischer Instabilität in der entwickelten Welt und Naturphänomene wie die Coronavirus-Epidemien das Versinken der Menschheit in ein weiteres „Dunkles Zeitalter“ herbeiführen. Sollte das eintreten, dann würde keine Philosophie besser passen als der Postmodernismus.