Von Holocaust-Überlebender inspiriert sammelt eine Gruppe massenhaft Zeugenaussagen, um Leugnung des 7. Oktobers zu kontern

Edut 710 besteht aus Filmemachern, Wissenschaftlern und Gesundheitsmitarbeitern und dient dem doppelten Zweck Opfern beim Bewältigen der Traumata fertigzuwerden und Hamas-Gräueltaten für die Zukunft zu dokumentieren.

Diana Bletter, Times of Israel, 29. April 2024

Adele Raemer aus dem Kibbuz Nirim spricht mit Talya Avischai für das Projekt Edut 710 (zur Verfügung gestellt von Edut 710)

Sharon Weisberger sah am 7. Oktober sie Sonne über dem Supernova-Musikfest aufgehen. Nur Augenblicke zuvor hatte sie ein Gespräch mit einem Fotografen über Musik und Liebe und dass „man nur einmal lebt und man sich seine Träume erfüllen sollte“.

Dann änderte sich alles, als Hamas-Terroristen ihren brutalen Angriff auf das Festival begannen, auf der Party in der Natur 360 Menschen töteten und 40 verschleppten, von denen einige immer noch als Geiseln im Gazastreifen festgehalten werden. Der Angriff auf das Festival war Teil eines breiten Angriffs, bei dem tausende von der Hamas angeführte Terroristen aus dem Gazastreifen über Land, durch die Luft und über See nach Israel stürmten, rund 1.200 Menschen töteten (die meisten davon Zivilisten) und 253 weitere in den Gazastreifen verschleppten.

Weisberger schaffte es zu entkommen, aber sie verlor ihr inneres „Feuer“ und sie weiß nicht mehr, ob es einen Ort auf der Welt für die Dinge gibt, die sie einst liebte.

Weisberger ist eine der mehr als 700 Überlebenden und Augenzeugen der Massaker vom 7. Oktober, die für Edut 710 auf Video Zeugnis geben; Edut 710 ist die größte Basisorganisation israelischer Dokumentarfilmer, Wissenschaftler und Mitarbeitern für psychische Gesundheit, die innerhalb weniger Tage begannen Zeugenaussagen zu den Gräueltaten vom 7. Oktober zu filmen. Der Name der Gruppe kommt vom  hebräischen Wort für Zeugenaussage und dem Kalenderdatum des Massakers.

„Wir erkannten sehr schnell, dass wir die Primärzeugen auszeichnen wollten, die in der Schusslinie standen“, sagte Edut 710-Mitgrünoder Sagi Aloni. Die Gruppe hatte rund 400 Freiwillige, die sich an dem Projekt beteiligten. Jeder Zeuge erzählt brühwarm eine unbearbeitete Geschichte, was zum kollektiven Ausbruch von Trauma, Angst, Ungewissheit und Überleben beiträgt.

„Wir müssen an die Zukunft denken und wie die Leute versuchen werden Beweise zu finden und bestreiten, dass das überhaupt stattgefunden hat“, sagte ein weiterer Gründer, Iray Ken-Tor, ein Dokumentarfilmer und Produzent der preisgekrönten Dokumentation „A Film Unfinished“ über einen im Warschauer Ghetto aufgenommenen Nazi-Propagandafilm.

„Wie ich zur Schoa geforscht und eine Menge Beweise gesammelt habe, kenne ich die Bedeutung von Zeugenaussagen aus erster Hand“, sagte Ken-Tor. „Es ist sehr wichtig, dass die Qualität unserer Videos wirklich gut ist, damit sie in der Zukunft angesehen werden können und hundert Jahre erhalten bleiben.“

Die Kunst des Zuhörens

Das Ethos von Edut 710 orientiert sich an den Lehrern von Dr. Dori Laub, einer Holocaust-Überelbenden, die Zeugenaussagen von Überlebenden sammelte und Leuten die Kunst lehrte Leute zuzuhören, die ein Trauma erlitten haben.

„Wir ‚interviewen‘ die Überlebenden nicht“, sagte Talya Avischai, einer der Gründer von Edut 710. „Wir hören zu, hören genau zu“, sagte Talya Avischai, einer der Gründer von Edut 710. „Wir tun nichts anderes. Wir passen auf. Wir machen das ethisch, damit wir niemanden verletzten, der immer noch mitten in seinem Trauma steckt.“

Elia Ben Shmuel aus Kerem Schalom gibt Zeugnis für das Projekt Edut 710 (Foto: Edut 710)

Avischai, die sagte, sie haben mehr als 70 Überlebende gehört, sagte, die Worte, die Überlebende zu verwenden versuchen, umfassen die Tiefe ihres Schmerzes nicht.

„Wir können keine Worte verwenden, die schon so lange bestanden um etwas zu beschreiben, das niemals zuvor geschehen ist“, sagte Avischai. Sie achtet auf die Tonlage eines Überelbenden, die Körpersprache und Blicke, die „nichts mit Worten zu tun haben“.

„Ich sehe ihnen in die Augen“, sagte sie. „Ich blicke in ihre Seelen.“

„Sie erzählen ihre Geschichte als Teil der jüdischen Geschichte“, sagte Avischai. „Die Tatsache, dass ich bei ihnen sitze und ihnen zuhöre, ist ein Erfolg. Es ist herzerweichend, aber das ist ein glückliches Ende, weil sie immer noch am Leben sind.“

Roni Levy aus Talmei Elivahu gibt Talya Avischai gegenüber Zeugnis für das Projekt Edut 710 (Foto: Edut 710)

Bat-El Segev, eine sechsfache Mutter, darunter ein einen Monat altes Baby, überlebte den Angriff in ihrer Gartenwohnung in Sderot. Ein paar Monate nach dem 7. Oktober sprach sie mit Avischai und der Videograph Kfir Amir filmte sie.

„Die Tage, in denen wir uns alle auf einem schiffsbrüchigen Boot befanden, da waren die Leute des Projekts für uns ein Anker, ein zuhörendes Ohr und eine Zuflucht im Schmerz“, sagte Segev hinterher. „Allein das Sprechen, das Zuhören waren eine Quelle neue Kraft zu finden und der erste Schritt der Rückkehr ins Leben.“

Die Videos zeigen, wie „Menschen von Überlebenden zu Zeugen werden“, sagte Ohad Ufaz, ein Filmemacher und einer der Gründer von Edut.

Dr. Dori Laub in einem Bild aus dem Fortnoff-Videoarchiv für Holocaust-Zeugenaussagen (CC BY-SA 3.0/Fortunoff Video-Archiv für Holocaust-Zeugenaussagen)

Ufaz führte im Film „The Listener“ über Laub Regie, der „es Schoa-Überlebenden ermöglichte ihre Zeugenaussagen zu machen und zum ersten Mal zu erleben, dass ihnen jemand tatsächlich zuhörte“.

„Wir haben bei Edut ein Protokoll, eine Methode sich den Überlebenden zu nähern“, sagte Ufaz.

„Es gibt ein geringes Risiko, dass wir PTSD (Posttraumatische Stresssyndrom) auslösen, also geben wir Überlebenden so viel Zeit wie möglich, denn sie müssen führen und ihre eigene Geschichte bezeugen. Wir sind sehr sensibel. Wir unterbrechen nie.“

Ufaz sagte, die Videos ließen die Überlebenden sich auch als „normale Leute“ vorstellen, die ihr Leben in der Woche vor dem 7. Oktober beschreiben.

Shirel Habaz aus Kerem Schalom wird für das Projekt Edut 710 fotografiert (Foto: Edut 710)

Emotionales Trauma ist wie eine Wunde, sagte er, und „eine verwundetes Gedächtnis liegt in Scherben“. Soweit das möglich ist, besteht das Ziel darin den Überlebenden zu helfen „ihre Geschichte und Erinnerungen selbst in die Hand zu nehmen“.

Sei aufmerksam und stelle keine Fragen

Edut 710 postet sowohl einminütige als auch fünfminütige Zeugenaussagen in sozialen Medien und auf YouTube sowie komplette Aussagen auf seiner Website, um die Leugnung der Angriffe vom 7. Oktober zu bekämpfen.

„Es gibt nichts Überzeugenderes aus Aussagekräftigeres als jemanden, der seinen Standpunkt mitteilt und auf Einzelheiten eingeht, die sich niemand vorstellen konnte“, sagte Ufaz.

Gil Levin, ein an dem Projekt beteiligter Fotograf, arbeitete normalerweise als Sozialarbeiter mit vernachlässigten und missbrauchten Kindern. Er arbeitet ehrenamtlich bei Edut, sowohl als Zuhörern, sagte er, als auch hinter der Kamera.

Adele Raemer aus dem Kibbuz Nirim spricht mit Talya Avischai für das Projekt Edut 710 (Foto: Edut 710)

„Wir haben gelernt aufzupassen und keine Fragen zu stellen“, sagte Levin. „Wir drängen niemanden zum Reden. Wir suchen nicht nach Drama.“

Die Geschichte von jedem ist Teil einer größeren Geschichte, von Männern, die Soldaten und Notfallhelfer waren bis zu Frauen, die sich mit ihren Kindern  in Schutzräumen versteckten. Die Geschichte einer Frau, die „die Tür des Schutzraums festhielt, damit die Terroristen sie nicht öffnen konnten“, offenbarte ihren „Einfallsreichtum und ihre Entschlossenheit zu überleben“.

„Niemand kann über diese Gräuel Reden außer ihnen selbst“, sagte Ufaz. Alon Davidi, der Bürgermeister von Sderot, gab Edut 710 seine Aussage „als Bürger“ und drängte andere dasselbe zu tun.

„Es ist nicht nur für zukünftige Generationen sehr wichtig, sondern auch für uns selbst“, sagte Davidi.

Dr. Renana Keydar, Dozentin für Jura und digitale Geisteswissenschaften an der Hebräischen Universität, hat sich zusammen mit Dr. Yael Netzer, der führenden Wissenschaftlern am Zentrum für digitale Geisteswissenschaften der Universität, freiwillig gemeldet, um ein digitales Archiv der Videos von Edut 710 aufzubauen, das in der Nationalbibliothek Israels gespeichert wird. Die Zeugenaussagen werden ausgefeilte Modell maschinellen Lernens und künstlicher Intelligenz nutzen, um das Projekt für zukünftige Wissenschaftler nachhaltig zu machen.

Shirel Habaz aus Kerem Schalom gibt für das Projekt Edut 710 Zeugnis (Foto: Edut 710)

Keydar hielt fest, dass es fast 100 Initiativen überall im Land gibt, die dokumentieren, was am und nach dem 7. Oktober geschah. Die in Israel Aufgewachsene sagte, dass sie damit aufwuchs Zeugnisse zu hören. Jedes Jahr sagte sie z.B. an Israels nationalem Holocaust-Gedenktag: „Es gab immer jemanden, der einem als Zeuge eine Geschichte erzählte.“

Die der Geschichte zuhörenden Leute halfen dann die Last der Geschichte zu tragen.

Hat das etwas mit der Rolle der Erinnerung an Juden in ihrer Tradition und Geschichte zu tun?

Im Gespräch mit der Times of Israel sagte Aloni, Gründer von Edut 710, er glaube, dass das der Fall ist. Selbst nach dem Pogrom in Kischinew 1903, sagte Aloni, gab es einen Forscher, der Zeugenaussagen sammelte.

Traurig lachend fügte er hinzu: „Ich schätze, wir sind Trauer-Experten.“

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