Jeder Tag ist 7. Oktober, bis wir das Problem beheben

Forest Rain, Inspiration from Zion, 26. Juni 2024

In seiner Abwesenheit entschuldigt sich Ella Ban Ami bei ihrem Vater, weil sie so emotionslos ist. Sie ist nicht ohne Gefühle, im Gegenteil – das Problem, dass sie zu viele Gefühle hat.

Ella musste ihr Herz verschließen, um weiter zu funktionieren, beim Kampf um ihr Leben ihre Würde zu behalten: um die Befreiung ihres Vaters aus der Gefangenschaft im Gazastreifen.

Und als ob das nicht genug sei, kümmert sich Ell auch um ihrer Mutter, die 54 Tage lang im Gazastreifen gefangen gehalten wurde. Raz hatte vorher schon gesundheitliche Probleme und ihr wurde in der Gefangenschaft medizinische Behandlung verweigert. Als sie beim Geisel-Deal mit der Hamas freigelassen wurde, hatte sich ihre Gesundheit in furchterregendem Ausmaß verschlechtert.

Das Wissen, dass Ohad, ihr geliebter Ehemann, der ihr jeden Tag wieder einen Heiratsantrag machte, immer noch im Gazastreifen ist, hilft ihr nicht dabei gesund zu werden.

Jetzt trägt Ella seinen Ehering an einem Kettchen um den Hals, um ihn nahe an ihrem Herzen zu spüren.

Es war Ellas Stimme, die mich am 7. Oktober schließlich begreifen ließ, dass etwas unaussprechlich Entsetzliches im Gang war.

An diesem Samstag weckte mich die App Roter Alarm auf Lennys Handy. Meines ist so eingestellt, dass es Alarme in Haifa meldet, wo wir leben. Alarme können jetzt anhand von Orten eingestellt werden, um Leute nicht unnötig zu traumatisieren, aber Lenny sagt, es ist inakzeptabel nicht zu wissen, wenn unser Volk bombardiert wird. Das ist der Grund, dass seine Alarme für das gesamte Land eingestellt sind.

Die Warnung vor einfliegenden Raketen wurde pausenlos ausgelöst. Raketen aus dem Gazastreifen auf den Süden und sogar ins Zentrum des Landes. So viele, dass er die Alarme im Handy abstellte und den Fernseher einschaltete, um zu sehen, was los war.

Ich nahm an, es handele sich um eine weitere „Runde“, wie so viele zuvor. Schrecklich, aber nichts, was hieß, dass ich aufstehen sollte. Aber dann sagte er: „Wach auf! Schau! Da sind Terroristen in Sderot!“

Schlaftrunken schaute ich auf den Fernseher und sah die inzwischen berüchtigten Bilder von Terroristen gedrängt auf einem weißen Pickup-Truck, die in Sderot unterwegs waren. Sechs oder sieben Terroristen? Furchtbar! Aber die würden bald eliminiert werden … das ist das, was ich und so viele andere dachten. Zu dem Zeitpunkt verstand niemand, dass da eine Invasion stattfand.

Ich fing an das zu begreifen, als Ella den Nachrichtensender anrief.

Ella war bereits seit Stunden im Saferoom ihres Hauses in Be’eri gefangen. In verzweifelter Sorge um ihre Eltern und weil niemand sonst auf ihre Bitten um Hilfe antwortete, rief sie den Sender an und hoffte, dass sie zumindest dort gehört würde.

Die Invasoren waren im Kibbuz, schlachteten Menschen ab und brannten Häuser nieder. Ellas Eltern schrieben ihr SMSen, beschrieben die Ausschreitungen in ihrem Viertel, ihrem Haus, den Einbruch in ihren Saferoom und dann war Schweigen.

Und dann sah Ella das Bild ihres Vaters auf einer Nachrichtenseite aus Gaza, wie er in T-Shirt und Boxershorts in den Gazastreifen geschleppt wurde.

Es war 11:48 Uhr, als sie anrief. Die Invasion hatte gegen 6 Uhr begonnen.

Ella sagte Danny Kushmaro, dem Nachrichtenmoderator, dass ihr Vater als Geisel genommen und in den Gazastreifen gebracht worden war. Schockiert versuchte er vorsichtig die Einzelheiten des Geschehens zu klären.

Man konnte sich nicht vorstellen, dass das passierte.

„Wie alt bist du?“
„23. Mein Vater wurde als Geisel in den Gazastreifen gebracht.“
„Bist du sicher? Woher weißt du das?“

Es war Ella, die den Reportern und ganz Israel erklärte, dass nicht nur Menschen abgeschlachtet wurden, sondern dass sie auch als Geiseln genommen wurden.

Das erste Mal, dass ich Ella traf, war in der Knesset. Sie war mit vielen anderen Familienmitgliedern von Geiseln gekommen, um den Knessetmitgliedern zu erklären, was sie brauchten und um ihre Hilfe zu bitten. Das leider ein herzzerreißendes wöchentliches Ritual geworden, wie die Geiseln immer noch nicht Zuhause sind.

Erschöpft, aber mit großer Würde, erzählte Ella den Abgeordneten und jedem, der zuhörte, die zum größten Teil doppelt so alt waren wie sie von der Kluft zwischen den als Hilfe für die Terroropfer eingeführten Maßnahmen und der Realität, mit der sie sich auseinanderzusetzen gezwungen ist.

„Ja, ich weiß, es gibt Möglichkeiten für Terroropfer Hilfe zu bekommen, aber das ist ein Haufen Papierkram, der ausgefüllt werden muss. Ich kann mich nicht auf Formulare konzentrieren. Ich kann nicht darüber nachdenken, was mir passiert ist… Ich war 15 Stunden lang eingesperrt und wurde unter Beschuss evakuiert. Ich musste über Leichen gehen. Dreimal wurde ich beinahe getötet… aber meine Mutter ist krank und mein Vater ist immer noch im Gazastreifen.“

Ella ist nicht allein. Sie hat zwei Schwestern, ihre Mutter, die weitere Familie. Sie hat Freunde und eine neue Familie – die Kinder, Brüder und Schwestern anderer Geiseln. Sie schreiben ihr viele der Ideen zu, wie man die Geiseln in der öffentlichen Aufmerksamkeit halten kann. Sie stellen fest, dass sie zu ihr aufsehen, um Ideen und Motivation zu bekommen, denn obwohl sie jünger als sie ist, ist sie eine geborene Anführerin.

Und das ist es – sie ist nicht alleine, aber welche 23-jährige will diesen furchtbaren Kampf anführen? Alles, was sie will, ist ihren Vater zurückzubekommen. Erst dann wird ihre Familie in der Lage sein den Heilungsprozess zu beginnen. Erst dann wird sie sich erlauben an sich selbst zu denken.

Erst wenn ihr Vater nach Hause kommt, wird Ella in der Lage sein sich eine Zukunft vorzustellen. Welchen Platz wird sie ihr Zuhause nennen können? Be’eri, wo sie aufwuchs und glücklich war? Der Ort, an dem sie über Leichen steigen musste, an ausgebrannten Autos vorbeilaufen musste und den Gestank des Todes atmete? Wo jeder Pfad, jedes Haus eine Erinnerung an Freunde und Nachbarn ist, die dort sein sollten und es nicht sind? Wie wird sie ihre eigene Familie gründen, im Wissen, dass der Staat die ihre nicht beschützen konnte oder gar nach dieser Katastrophe die Probleme erfolgreich löste?

Wir müssen das in Ordnung bringen.

Es reicht nicht Ellas Vater zu befreien. Jede Geisel ist mehr als ihre individuelle Geschichte, mehr als die zurückgebliebene Familie, die krank ist vor Sorge, gebrochen von Trauer. Die Nation Israel ist eine Familie. Wir streiten und wir mögen uns nicht immer, aber wir sind dennoch eine Familie.

Jede lebende Geisel muss befreit werden. Unsere Toten müssen beerdigt werden. Unsere Zukunft muss geschützt werden. Wir müssen der Welt beweisen, dass wir es ernst meinten, als wir NIE WIEDER sagten. Wenn wir das nicht tun, dann wird es immer und immer und immer wieder passieren. Das haben unsere Feinde uns versprochen.

Jeden Tag ist 7. Oktober, bis wir das beheben.

Und Ella? Jedes Mal, wenn ich sie sehe, streckt sich mein Herz zu ihr aus. Nicht in Mitleid, sondern mit Stolz über ihre sprachgewandte Würde, ihre unbeugsame Entschlossenheit und die Liebe für Familie und Freunde.

Ich weiß nicht, wie ich damit klarkommen würde, steckte ich in ihrer Haut (und könnte jedem von uns passieren). Offen gesagt reicht es mir, dass ich mich um meine Soldaten sorge und um Freunde und Familie, das reicht um mich körperlich krank zu machen.

Ich wünschte, ich könnte Elle die Last von den Schultern nehmen.

Es waren ihre Worte, mit denen für mich der Krieg begann. Ich hoffe auf den Tag, an dem ich sie Worte sagen höre, die beweisen, dass wir wieder auf dem richtigen Weg sind, Worte, die uns allen  Hoffnung geben: „Mein Vater ist Zuhause. Die Geiseln sind Zuhause.“

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