70 Jahre Archäologie in Israel – von Qumran bis zur Davidstadt

von Ulrich W. Sahm, Jerusalem, 20. April 2018 (direkt vom Autor)

1948 stieg ein Beduine in eine Höhle, um eine entlaufene Ziege einzufangen und entdeckte dabei ein paar alte Krüge. Einige waren leer, andere enthielten Asche und in einigen fand er beschriftete Pergamente. Das waren die ersten „Qumranrollen“, die fortan das Verständnis der Bibel und der Ursprünge des Christentums verändern sollten. Ganze Heere von Wissenschaftlern aus aller Welt beugten sich fortan über Tausende Kopien und winzige Schnipsel biblischer Texte, Briefe und anderer Dokumente in Hebräisch, Latein und Griechisch, auf Papyrus oder Leder geschrieben. Das Israel-Museum hat ihnen ein eigenes Gebäude gewidmet, dessen Form wie der Deckel eines Krugs gestaltet ist.

Jeder Quadratmeter atmet hier die Geschichte von Jahrtausenden. Nirgendwo kann ein Fundament ausgehoben oder eine Straße angelegt werden, ohne dass die Antikenbehörde den Untergrund kontrolliert. Archäologie spielt eine zentrale Rolle bei der Identitätssuche der Völker im Nahen Osten. Palästinenser erklären muslimisches Erbe, etwa in Jericho, zum Beweis für palästinensische Präsenz, Jahrhunderte, bevor es „Palästinenser“ gab. Armenier fanden in ihren Grundstücken in Jerusalem Spuren des Hohe-Priesters Kaiphas, während Juden überall im Land ihre Verbindung zur biblischen Geschichte aufzeigen.

Südlich von Haifa gibt es Höhlen, wo man nicht nur eine 60.000 Jahre alte Grabstätte fand, sondern auch den ersten Nachweis eines Treffens des Homo Sapiens aus Afrika mit dem Neandertaler aus Europa. Vielleicht sind wir alle ja Kinder dieser Begegnung. Dann stünde an der Wiege des Heiligen Landes das erste „Mischvolk“ der Menschheit. Ein hartes Brot für alle, die versuchen, einer Kulturgemeinschaft bestimmte „Gene“ etwa für die Entstehung von Nobelpreisträgern oder Finanzhaien zuzuschreiben.

Die Bibel als Leitfaden

Ob die Welt tatsächlich vor 5778 Jahren von Gott innerhalb von 6 Tagen erschaffen worden ist, darf bezweifelt werden. Aber schon der mythologische Erzvater Abraham, dem die Gründung der ehemals wunderbaren syrischen Stadt Aleppo zugeschrieben wird, könnte eine historische Figur gewesen sein. Die Stationen seiner Wanderung vom heutigen Irak nach Israel sind im archäologischen Kontext belegt. Abrahams Weg endete in Hebron, wo bis heute sein Grab in einem von König Herodes vor 2000 Jahren errichteten Gebäude verehrt wird.

Im Gebiet des Staates Israel nach 1948 liegen viele antike Städte aus biblischer Zeit, die in großangelegten wissenschaftlichen Ausgrabungen freigelegt wurden. Dazu gehören Hazor im Norden und Lachisch im Süden. Hinzu kamen Aschkelon, wo Spuren der biblischen Philister gefunden wurden, Caesarea, wo die Römer den größten Hafen ihres Imperiums angelegt hatten und Masada am Toten Meer. Dort wurde vor 2000 Jahren eine Heldengeschichte jüdischer Widerstandskämpfer detailliert dokumentiert. Der römisch-jüdische Historiker Flavius Josephus berichtet, dass die Belagerten unter Führung von Eleazar ben-Ya’ir, beschlossen, lieber als freie Menschen zu sterben, als den Römern in die Hände zu fallen: „Ein ruhmvoller Tod ist besser als ein Leben im Elend.“ Per Los bestimmten sie einige Männer, die wechselseitig den Rest der Gruppe und anschließend sich selbst töten sollten. Als die römischen Soldaten die Festung stürmten, lagen dort die Leichen von 960 Männern, Frauen und Kindern. Nur zwei Frauen und fünf Kinder hatten sich verborgen gehalten und konnten berichten, was geschehen war. Bis heute ist die Festungsruine das Symbol des jüdischen Freiheitswillens.

Zwischen 1965 und 1991 wurden hier die jungen Soldaten gemäß dem Motto „Masada darf nie wieder fallen“ vereidigt. 1969 wurden von den Archäologen gefundene Knochen mit einem Staatsakt feierlich begraben. Es hieß, dass so die jüdischen Verteidiger zur letzten Ruhe gelegt würden. Doch der Anthropologe Joe Zias hegte Zweifel und behauptete, dass die Knochen eher von römischen Legionären stammten. Zudem waren sie vermischt mit Schweineknochen.

Derartige Kontroversen gehören zum Alltag israelischer Archäologen. Prof. Israel Finkelstein von der Universität Tel Aviv erklärte sogar die Könige David und Salomo zu Produkten fantasievoller Volkserzählungen. Dagegen haben Archäologen in Tel Dan im Norden Israels auf einem zweitverwendeten Stein die Inschrift „Haus des David“ gefunden. Das beweist natürlich nicht, dass es den rothaarigen Helden, der den mächtigen Goliath mit einem Steinwurf getötet haben soll, gegeben hat. Aber offenbar muss nach David eine ganze Dynastie benannt worden sein. Von König Salomon fehlt bisher jeglicher Nachweis. Den gibt es erst für seinen Sohn Rehabeam. Professor Gabriel Barkai von der Bar Ilan Universität meint dazu: „Jeder Mensch hat einen Vater.“ Wenn der Sohn nachgewiesen ist, dann müsse auch sein Vater existiert haben. Salomon gilt als der Erbauer des ersten Tempels in Jerusalem, von dem schon zahlreiche Spuren gefunden worden sind. Heute steht an dessen Stelle der Felsendom, eines der schönsten und frühesten Gebäude des Islam, vermutlich von christlich byzantinischen Architekten und Handwerkern entworfen und errichtet. Im Jahr 638 war Jerusalem vom Kalifen Omar, einem Nachfolger des Propheten Mohammad erobert worden.

Rund um den Tempelberg und südlich davon in der Stadt Davids, dem ältesten Teil Jerusalems, sind Ausgrabungen politisch besonders brisant.

Denn sie finden in dem von Israel seit 1967 besetzten Ost-Jerusalem statt, unter Häusern von Palästinensern, die hier ohne jegliche Baugenehmigung den Hügel bebaut haben, der in den 1920er Jahren, als die britische Archäologin Kathleen Kenyon dort erste Probegrabungen durchführte, noch kahl und leer war. Die israelischen Archäologen Roni Reich und Eli Schukrun haben dort gewaltige Höhlen und Wassertunnel aus der Zeit der Jebusiter freigelegt. Laut Bibel ist an dieser Stelle auch König David in die Stadt eingedrungen. Aber das ist selbstverständlich noch kein Beweis dafür, dass ausgerechnet ein David dort durchgekrochen ist. Gleiches gilt für einen mächtigen Bau mit tonnenschweren Steinen, wie sie nur eine staatliche Institution und gewiss kein Privatmann hätte bauen können. Eilat Mazar, Archäologin in den Diensten der Antikenbehörde, erklärte den Fund zum „Palast des Königs David“, errichtet auf einer schrägen Stadtmauer der Jebusiter. Politische Gegner behaupten, dass sie das nur sage, weil eine rechtsgerichtete Siedlerorganisation und ein „zionistischer Amerikaner, Kind von Holocaustüberlebenden“, ihre Grabung finanziert habe. Hätte Mazar behauptet, dass es sich um einen palästinensischen Königspalast handelte, 3000 Jahre ehe es Palästinenser als Volk gab, wären ihr wohl Forschungsgelder der UNICEF sicher. Bei einer Führung machte ein 10-jähriger Junge einen Vorschlag zur Güte: „Vielleicht war das Ganze ja ein Supermarkt…“

Die Funde in der Davidstadt und etwas weiter nördlich, entlang der Klagemauer, sind überwältigend. In einer Villa, die am 9. des hebräischen Monats Av im Jahr 586 vor Chr. abgebrannt ist, dem Tag als der babylonische König Nebukadnazer den Tempel von Jerusalem zerstörte, fanden sich in einer dicken Ascheschicht Siegel mit den Namen der persönlichen Berater des Königs Hiskias, etwa eines Achiav Ben-Menachem. Die tönernen „Bullae“ (Siegel oder auf Hebräisch Briefmarken) haben den großen Brand überlebt. Die Namensinschriften sind in Althebräisch geschrieben. Dazu gehört auch eine monumentale Inschrift des Königs Hiskias in dem von ihm befohlenen Tunneldurchbruch für die Wasserversorgung Jerusalems bei der Siloam-Quelle. Wie in der Bibel beschrieben, wurde der Tunnel von zwei Seiten in den Felsen geschlagen. Wo die Arbeiter sich trafen, wurde eine Inschrift in der Wand geritzt. Sie wurde schon vor 100 Jahren gefunden und nach Istanbul gebracht, wo sie sich heute im Topkapi-Museum befindet.

Entlang der westlichen Umfassungsmauer des Tempelbergs reiht sich ein riesiges Gewölbe an das nächste. Über diesen römischen Bauten leben heute Araber in neuen Häusern. Gefunden wurden da riesige Zisternen und Steinbrüche noch aus der Zeit des Salomon. In einem der Gewölbe wurde kürzlich ein römisches Theater freigelegt. Im Hintergrund sieht man die Fortsetzung der Klagemauer.

Reiseführer erzählen immer noch gerne, dass König Herodes die Klagemauer gebaut habe. Doch 2011 wurde in einem vor 2000 Jahren mit Schutt gefüllten jüdischen Tauchbad (Mikwe) aus der Zeit des Salomon eine Münze aus dem Jahr 18 n. Chr. gefunden. Die Mikwe befand sich unter den bis zu 150 Tonnen schweren Steinblöcken. Das belegt einwandfrei, dass die berühmte Mauer erst nach dem Tod des Herodes errichtet worden sein kann.

Westlich der Klagemauer haben die Römer eine breite Straße mit großen fein behauenen Steinblöcken ausgelegt. Auf einem Teilstück liegen auf einer Ascheschicht uralte Trümmer. Einige dieser von den Römern im Jahr 70 herunter geworfenen Steine sind rundlich gemeißelt. Das war das Geländer. Genau unter der Zinne ist die Kopie ein solchen Steines aufgestellt. Auf dem steht in großen hebräischen Lettern: „Zum Ort des Trompeters“. Das Original befindet sich heute im Israel-Museum. Der Stein wurde 1968 bei den ersten Ausgrabungen nahe der Klagemauer gefunden. Die Inschrift bestätigt eine jüdische Tradition, wonach auf der Zinne ein Trompeter stehen und nach dem Messias Ausschau halten sollte. Hier treffen eine alte jüdische und eine christliche Tradition aufeinander. Im Neuen Testament gibt zu diesem Ort die berühmte Geschichte der Versuchung Jesu. In Matthäus 4 heißt es: „Darauf nahm ihn der Teufel mit sich in die Heilige Stadt, stellte ihn oben auf die Zinne des Tempels und sagte zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so stürz dich hinab; denn es heißt in der Schrift: Seinen Engeln befiehlt er, dich auf ihren Händen zu tragen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt.

Wenige Meter von dort entfernt sind hoch oben in der Mauer die antiken Befestigungen einer römischen Brücke zu erkennen, der sogenannte Robinsonbogen. Die Brücke ist längst verschwunden, aber das andere Ende des Bogens wurde bei Ausgrabungen freigelegt. Darin sieht man zwischen den mächtigen Steinblöcken kleine Läden. Hier könnten in der Bibel beschriebenen Geldwechsler gesessen haben. Denn römische Münzen mit dem Abbild des Gott-Kaisers durften die Juden nicht in den Tempel tragen. Also tauschten sie die römische Währung in neutrale Tempelmünzen um.

Unter dem perfekt erhaltenen Straßenbelag unterhalb des Robinsonbogens gibt es ein Zeugnis für eine historische „Panne“. Ein Teil des Bogens brach bei den Bauarbeiten ein. Dabei stürzte der spitze Schlussstein herab, durchschlug die Straße und blieb in der Tiefe des Abwassertunnels stecken. Der Straßenbelag wurde schnell wieder erneuert, sodass heute dort nichts mehr zu sehen ist. Der Abwassertunnel ist weitgehend freigelegt worden. Dort, wo bis heute dieser Spitzstein von der Decke herabragt, muss man sich tief bücken. Der Archäologe Gabriel Barkai vermutet, dass diese „Panne“ etwa im Jahr 30 n.Chr. passiert sei. Meine (Ulrich Sahm) Anfrage im geologischen Institut Israels ergab, dass es „ungefähr“ im Jahr 30 oder kurz danach ein leichtes Erdbeben gegeben habe, das auch in Jerusalem zu spüren war. Hier treffen also wieder wissenschaftliche Beweise auf Erzählungen aus dem Neuen Testament. In der Kreuzigungsszene, Matthäus 27, Vers 51/52 wird ein solches Erdbeben anschaulich geschildert: „Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von obenan bis untenaus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen“. Die Geologen können hier Erderschütterungen ziemlich exakt zuordnen, weil sich Schichten von braunem Schwemmwasser des Winterregens mit weißen Salzschichten von der Verdunstung des Tote Meer Wassers im Sommer wie die Jahresringe eines Baumes abwechseln.

Abschließend noch ein lustiger Fund. Entlang der besagten Straße kann man die Gullis sehen, durch die das Regenwasser hinab in den Entwässerungstunnel und von dort in die riesigen Zisternen geleitet worden ist. Auf dieser Straße wandelten damals auch die Hohepriester des Tempels. Am unteren Saum ihres Prachtgewandes waren zahlreiche winzige goldene Glöckchen angebracht. Aufgrund alter jüdischer Berichte fanden diese mit Glöckchen versehenen Abbildungen der Hohen Priester auch Eingang in die christliche Kunst des Mittelalters. Offenbar hat einer der Priester beim Gang zum Tempeldienst ein solches Glöckchen verloren. Es rollte in den Gulli und wurde jetzt bei den Grabungsarbeiten in dem Tunnel wiedergefunden. So kann man hören, was die Menschen vor 2000 Jahren nahe dem Tempel gehört haben. Eine Nachbildung des biblischen Glöckchens wird heute als Andenken an die Besucher verkauft.

(C) Ulrich W. Sahm