Konvertierten die Chasaren zum Judentum? Neue Forschungsergebnisse sagen: Nein

Konvertierten die Chasaren zum Judentum? Die Ansicht, dass einige oder alle Chasaren, ein Volk in Zentralasien, im 9. oder 10. Jahrhundert Juden wurden, ist weithin akzeptiert. Aber nach ausgiebiger Analyse ist der Forscher Prof. Shaul Stampfer von der Hebräischen Universität in Jerusalem zu dem Schluss gekommen, dass ein solcher Übertritt „zwar eine prächtige Geschichte“ ist, aber niemals stattfand.

Science Daily, 26. Juni 2014 (Quelle: Hebräische Universität Jerusalem)

Prof. Shaul Stampfer ist der Inhaber der Rabbi Edward Sandrow-Professur für sowjetisches und osteuropäisches Judentum in der Fakultät für die Geschichte des jüdischen Volks am Mandel Institut für Jüdische Studien der Hebräischen Universität. Die Forschungsarbeit ist gerade erst im Jewish Social Studies Journal, Band 19 Nr. 3 veröffentlicht worden (online auf http://bit.ly/khazars).

Ab etwa dem 7. bis 10. Jahrhundert herrschten die Chasaren über ein Reich, dass die Steppen zwischen dem Kaspischen Meer und dem Schwarzen Meer umfasste. Über die Kultur der Chasaren und ihre Gesellschaft ist nicht viel bekannt: Sie hinterließen keine schriftlichen Überlieferungen und die archäologischen Funde sind dürftig gewesen. Das Chasaren-Reich wurde von Swatoslaw von Kiew um das Jahr 969 überrannt und danach hörte man nur noch wenig von ihnen. Dennoch hält sich eine weit verbreitete Überzeugung, dass die Chasaren oder ihre Führer irgendwann zum Judentum konvertierten.

Berichte darüber, dass die Chasaren Juden waren, erschienen erstmals in muslimischen Arbeiten Ende des 9. Jahrhunderts und in zwei hebräischen Berichten im 10. Jahrhundert. Die Geschichte erreichte ein breiteres Publikum, als der jüdische Denker und Poet Yehuda Halevi sie als Rahmen für sein Buch Die Kuzaris verwendete. Dem Thema wurde in den folgenden Jahrhunderten wenig Aufmerksamkeit gewidmet, aber eine Schlüsselsammlung hebräischer Quellen zu den Chasaren erschien 1932, gefolgt von einer wenig bekannten, sechsbändigen Geschichte der Chasaren, die vom ukrainischen Gelehrten Ahatanhel Krymski geschrieben wurde. Henri Gregoire veröffentlichte skeptische Kritiken der Quellen, aber 1954 brachte Douglas Morton Dunlop das Thema mit The History of the Jewish Khazars in den Mainstream akzeptierter historischer Forschung. Arthur Koestlers Bestseller The Thirteenth Tribe (Der dreizehnte Stamm, 1976) machte die Erzählung einem breiteren westlichen Publikum bekannt; er argumentierte, dass das osteuropäische aschkenasische Judentum weitgehend chasarischer Herkunft sei. Viele Studien folgten und die Geschichte hat auch beträchtliche nichtakademische Aufmerksamkeit gewonnen; z.B. beförderte Schlomo Sands Bestseller von 2009, The Invention of the Jewish People (Die Erfindung des jüdischen Volks), die These, dass die Chasaren Juden wurden und ein Großteil des osteuropäischen Judentums von den Chasaren abstammte. Aber trotz all des Interesses gab es keine systematische kritische Besprechung der Belege für die Konversionsbehauptung, außer einen stimulierenden, aber sehr kurze und eingeschränkten Text von Mosche Gil von der Universität Tel Aviv.

Stampfer hält fest, dass Forscher, die zum Thema beigetragen haben, ihre Argumente auf einem eingeschränkten Corpus an Texten und numismatischen Belegen stützen. Physische Belege fehlen: Archäologische Ausgrabungen im Chasarenland haben fast keine Artefakte oder Grabsteine gefunden, die eindeutig jüdische Symbole zeigen. Er begutachtet auch verschiedene Schlüssel-Beweisstücke, die in Bezug auf die Konversionsgeschichte angeführt wurden, darunter historische und geografische Berichte sowie dokumentarische Belege. Zu den Schlüsselartefakten gehören ein scheinbarer Briefwechsel zwischen dem spanischen jüdischen Leiter Hasdai ibn Shaprut und Joseph, König der Chasaren; ein scheinbar historischer Bericht der Chasaren, der oft das Cambridge-Dokument oder Schechter-Dokument genannt wird; verschiedene Beschreibungen von Historikern, die auf Arabisch schrieben; und viele andere.

Zusammengenommen, sagt Stampfer, bieten diese Quellen ein Hupkonzert an Verfälschungen, Widersprüchen, Kapitalinteressen und Anomalien in einigen Bereichen und nichts als Schweigen in anderen. Eine sorgfältige Untersuchung der Quellen zeigt, dass einige fälschlich ihren angeblichen Autoren zugeschrieben werden und andere sind von fragwürdiger Zuverlässigkeit und nicht überzeugend. Viele der verlässlichsten zeitgenössischen Texte, wie der ausführliche Bericht des Übersetzers Salim, der von Kalif al-Wathiq 842 geschickt wurde, um nach der mythischen Alexander-Mauer zu suchen; und ein um 914 geschriebener Brief des Patriarchen von Konstantinopel Nicolas, der die Chasaren erwähnt, sagt nichts über ihren Übertritt.

Unter Berufung auf das Fehlen jeglicher verlässlicher Quellen zur Konversion und dem Fehlen glaubwürdiger Erklärungen für Quellen, die etwas anderes vermuten lassen oder unerklärbar still sind, kommt Stampfer zu dem Schluss, dass die einfachste und überzeugendste Antwort lautet, dass die Konversion der Chasaren eine Legende ohne Faktenbasis ist. Es gab nie eine Konversion des Chasaren-Königs oder der Chasaren-Elite, sagt er.

In diese Arbeit sind Jahre der Forschung gesteckt worden und Stampfer hielt reumütig fest: „Der größte Teil meiner Forschung drehte sich bis jetzt darum zu entdecken und klarzustellen, was in der Vergangenheit geschah. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie schwierig und herausfordernd es sein würde zu beweisen, dass etwas nicht geschah.“

In Begriffen historischer Konsequenzen sagt Stampfer, das Fehlen einer glaubwürdigen Grundlage für die Konversions-Geschichte bedeutet, dass viele Seiten der jüdischen, russischen und Chasaren-Geschichte neu geschrieben werden müssen. Wenn es nie einen Übertritt gab, müssen Fragen wie der jüdische Einfluss auf das frühe Russland und ethnische Kontakte überdacht werden.

Stampfer beschreibt die Hartnäckigkeit der Legende der Konversion der Chasaren als faszinierende Anwendung der These Thomas Kuhns über wissenschaftliche Revolution der historischen Forschung. Kuhn wies auf den Widerwillen von Forschern hin sogar angesichts von Anomalien die vertrauten Muster aufzugeben, statt Erklärungen zu finden, die, wenn auch erfunden, es nicht nötig machen bekannte Denkstrukturen aufzugeben. Nur dann, wenn sich „zu viele“ Anomalien anhäufen, ist es möglich ein völlig anderes Paradigma zu entwickeln – so wie die Behauptung, dass die Konversion der Chasaren niemals stattfand.

Stampfer schließt: „Wir müssen eingestehen, dass nüchterne Studien von Historikern nicht immer gut zu lesen sind und dass die Geschichte des Chasarenkönigs, der zum frommen und gläubigen Juden wurde, eine prächtige Geschichte war.“ Seiner Meinung nach „gibt es jedoch viele Gründe, warum es nützlich und notwendig ist Fakt von Fiktion zu trennen – und das ist ein solcher Fall.“


Quelle:
von der Hebräischen Universität Jerusalem zur Verfügung gestellte Materialien. Hinweis: Inhalte können aus stilistischen Gründen und wegen der Länge bearbeitet sein.


Fachzeitschrift: Did the Khazars Convert to Judaism? Schaul Stampfer, Jewish Social Studies, 2013; 19 (3), S. 1-72. DOI: 10.1353/jss.2013.0013