Um jeden Preis

Die Frage ist nicht eine des Mitgefühls für die Familien – sondern der Effektivität. Wenn wir die Hilfe jetzt einstellen, könnten Gazaner die Hamas-Hochburgen stürmen und die Geiseln befreien. Ich werde den Gazaner-Protesten glauben, wenn sie in Massen in die Tunnel rennen und unsere Geiseln herausbringen.

Rabbi Steven Pruzansky, Israel National News, 30. Januar 2024

Computer-Simulation des Vorfalls – Forum für Familien von Geiseln und vermissten Personen

Niemand sollte nörgeln am Aktivismus der Familien der Geiseln herum. Das ist eine klassische Anwendung von „al tadin et chavercha ad sche’tagi’a limkomo“, richte deinen Freund nicht, bis du an seiner Stelle stehst (Avot 2,4). Der erste Horror der brutalen, unmenschlichen Hamas-Invasion, erschwert durch den anhaltenden Horror der Gefangenschaft selbst, die Ungewissheit, die Angst, und die schlechte Behandlung, brechen uns das Herz und stärken unsere Willen diesen niederträchtigen Feind zu vernichten.

Natürlich haben nicht alle Familien der Geiseln auf dieselbe Weise reagiert und die Antwort, wie sollte es anders sein, ist nicht einheitlich. Diejenigen, die das nationale Interesse über ihren persönlichen Schmerz gestellt haben, haben auch unseren Respekt und Bewunderung. Aber wir können niemanden von ihnen richten, beten, dass wir uns nie in dieser Lage befinden werden, und Empathie mit ihrem Bedürfnis zeigen zu protestieren, zu demonstrieren und das Schicksal ihrer Lieben und unserer Bürger im Auge der Öffentlichkeit halten. Sie sollten das Gefühl haben, dass sie alles in ihrer Macht stehende tun.

Ihr Trauma ist unser Trauma und es ist richtig und angemessen, dass Besucher Israels am Flughafen mit Bildern der Geiseln begrüßt werden, so wie Fußgänger auf unseren Straßen.

Daher ist es dann keine Frage von richtig oder Anstand – sondern der Effektivität. Helfen oder schaden die Kampagnen und Störungen? Die Freilassung der Geiseln beschleunigen oder verzögern? Haben sie überhaupt irgendwelchen Einfluss auf ihre Geiselnehmer? Es ist klar, dass unser bösartiger Feind Hamas – und all jene, die unsere Vernichtung anstreben – Entführungen und andere rücksichtslose Taktiken als psychologische Folter einsetzen, im Wissen, wie wir Leben schätzen und nichts mehr wollen, als in der Lage zu sein ein sinnvolles, zielgerichtetes und glückliches Leben führen zu können.

Ermutigen wir ungewollt die Hamas in ihrer sadistischen Grausamkeit, wenn wir die Verzweiflung zeigen, die implizit in den Aufrufen zur Freilassung der Geiseln „um jeden Preis“ enthalten ist?

Machen die Kundgebungen und Forderungen ihre Freilassung weniger wahrscheinlich, kostspieliger und zukünftige Geiselnahmen wahrscheinlicher?

Wenn eine Taktik funktioniert, dann wird sie zwangsläufig wiederholt werden, bis sie nicht mehr funktioniert. Methoden anzuwenden, die kontraproduktiv sind, schadet der Sache und gefährdet unsere Zukunft, besonders in diesem Teil der Welt, wo die westlichen Normen der Zivilisation von unseren Feinden als Schwäche wahrgenommen werden.

Die Hamas weiß, wie sie unsere Anständigkeit und Liebe zum Leben als Waffe gegen uns einsetzen können. Es ist fehlgleitet zu glauben, dass unsere Regierung irgendwie und aus irgendeinem Grund das Schicksal der Geiseln nicht kümmert und sie nicht alles tut, was sie kann, um ihre Freiheit sicherzustellen. Diesbezüglich gibt es nichts weniger hilfreich als schrille Forderungen nach ihrer Freilassung „JETZT“ oder „um jeden Preis“. Das ist ein Preis, den wir alle bezahlen werden.

Der Appell „Bring them home NOW“ (Holt sie sofort nach Hause) hat das schwache Echo ähnlicher Appelle der jüngeren Vergangenheit um ein bewundernswertes Ziel, das seine Befürworter JETZT erreichen wollen. „Peace Now“ sticht als besonders unerhörtes Beispiel dafür heraus, wie man  Vorsicht über Bord wirft und unser Heimatland und seine Sicherheit aufgrund mangelnder Besonnenheit oder Geduld gefährdet.

Man kann „Peace Now“ unter anderen abscheulichen Ergebnissen die Tatsache zuschreiben, dass Israel keine Souveränität über die Halbinsel Sinai hat, was letztlich zuließ, dass das Gebiet der Kanal für den Schmuggel von schweren Waffen über Land und durch Tunnel in den Gazastreifen wurde. Seine ideologischen Nachfolger erzwangen im Jahr 2000 Israels hastigen Rückzug aus dem Südlibanon, von wo wir jetzt wieder unter den Raubzügen der Hisbollah leiden. Selbst die tollkühne und selbstzerstörerische Kapitulation des Gusch Katif war ein Ergebnis des unangebrachten Wunsches Ergebnisse, sogar Frieden „jetzt“ zu bekommen.

Wir sollten den Forderungen nach etwas Drastischem immer skeptisch gegenüber stehen, das dessen Befürworter jetzt wollen, ohne über die langfristigen Konsequenzen des zu zahlenden Preises nachzudenken. (Peace Now besteht tatsächlich immer noch darauf die Zweistaaten-Illusion zu verfolgen.)

Das Herz zwingt uns auf der Seite der trauernden Familien zu stehen. Der Kopf sagt uns, dass die Adresse ihrer berechtigten Beschwerden weniger unsere Regierung ist, sondern die Hamas, die internationale Gemeinschaft und all jene, die mehr um das Schicksal der Zivilisten im Gazastreifen besorgt sind, als um das Schicksal unserer Geiseln. Wir sollten natürlich Aufrufe zurückweisen den Feind-Zivilisten humanitäre Hilfe zu liefern, solange unserer Zivilisten unter entsetzlichen Umständen illegal eingekerkert sind oder solange weiter Raketen auf unser Volk geschossen werden.

Wir sollten die Ergreifung von Geiseln als Teil von Krieg nicht normalisieren, selbst wenn diese List in arabischen Kriegen überall in der Region wiederholt eingesetzt wurde. Die Wahrheit ist, dass unsere Geiseln unschuldiger sind als Gaza-Zivilisten und es ist höchste Zeit, dass wir diese Wahrheit entschlossen verbreiten.

Noch schlimmer als das Ultimatum JETZT ist die Forderung nach ihrer Freilassung „um jeden Preis“, die vor kurzem ein ehemaliger Knesset-Präsident brüllte. Das ist widerlicher Populismus der schlimmsten Art und von Natur aus unseriös. Um jeden Preis? Wären sie bereit sich selbst gegen die Geiseln zu tauschen? Das ist ein Preis. Würde er zustimmen die Kotel an die Hamas zu geben, die Hamas-Flagge permanent über der Knesset wehen zu lassen, den Staat Israel abzuschaffen, um damit die Geiseln freizutauschen? Auch das sind Preise.

Das ist nicht nur unseriös; es ist auch zutiefst töricht. Ein Unterhändler, der anbietet für sein geschätztes Ziel „jeden Preis“ zu zahlen, treibt diesen Preis in die Höhe, immer und immer und immer weiter, bis der Unterhändler die Dummheit des Angebots erkennt oder den selbstzerstörerischen Preis zahlt.

Und kein Preis hat sich als zerstörerischer für jüdisches Leben im Land Israel erwiesen als Tausch mörderischer Terroristen gegen unschuldige Juden. Auch das ist ein Preis, den wir heute für die Torheit der Vergangenheit zahlen – ein hoher und bitterer. Die Freilassung des verfluchten Sinwar mit mehr als tausend anderen Terroristen im Shalit-Deal sollte jede zurechnungsfähige Nation dazu bringen diese Herangehensweise an Geisel-Verhandlungen zu überdenken. Diese Deals haben buchstäblich weitere Geiselnahmen und den Verlust weiteren jüdischen Lebens ausgelöst. Die Hamas zu besiegen ist inkompatibel damit Hamas-Terroristen zurück in die Gesellschaft zu lassen. Das stärkt die Hamas nur, bekräftigt, dass sich Verbrechen an Juden bezahlt machen und ermutigt zur nächsten Runde.

Wie wir gesehen haben, gibt es keine einfache und bequeme Möglichkeit die Hamas zu besiegen und gleichzeitig die Geiseln zu befreien. Unsere Regierung kann für vieles kritisiert werden, aber ich glaube nicht, dass wir ihre aktuellen Bemühungen die Freilassung der Geiseln sicherzustellen bemängeln können. Wir haben es mit einem teuflischen Feind zu tun. Das Mindeste, was wir tun sollten, ist das Leben der Gazaner elend zu machen wie das Leben unserer Geiseln. Es riecht nicht, dass sie – endlich – gegen die Hamas protestieren und es fraglich, ob diese Proteste überhaupt aufrichtig und nicht von der Hamas inszeniert sind. Ich werde mehr von ihrer Ernsthaftigkeit überzeugt sein, wenn sie in Massen in die Tunnel rennen und mit unseren Geiseln herauskommen. Sicher werden viele von ihnen wissen, wo die Hamas die Geiseln festhält.

Dem Gazastreifen Hilfe zu liefern könnte der größte Fehler seit dem Beginn des Krieges sein; das sollte eingestellt werden, jetzt, und betroffene Gazaner sollten die Hamas-Festungen stürmen und die Geiseln befreien.

Wenn es einen Preis gibt, den wir in diesen gefahrvollen Zeiten bezahlen sollten, dann ist es dieser. Er ist ein erfreulicher und bereichernder: Nennen Sie es die kernspirituelle Option. Der Talmud (Shabbat 118b) erklärt, dass Rabbi Yochanan im Namen von Rabbi Schimon ben Yohai sagte: „Würde das jüdische Volk doch nur zwei Sabbate getreu ihrer Halachot einhalten, dann würde es auf der Stelle erlöst.“

Was für ein schöner und adelnder Preis! Zwei Sabbate, denn während einer eine besondere Erfahrung ist, sind zwei eine Hingabe. Stellen Sie sich vor, jeder Jude in Israel würde sich verpflichten zwei Sabbate entsprechend der Halacha einzuhalten. Ja, das wäre revolutionär – kein Fernsehen oder Radio, keine Theater oder Strände, keine Kneipen oder Nichtclubs, keine Telefone, keine SMS-Nachrichten, kein Shopping, keine Autos und keine Busse. Stattdessen zwei Sabbate, die mit Kerzen anzünden Zuhause beginnen und zu denen öffentliches Gebet und Thora-Studium gehören, Kiddusch, Mahlzeiten mit unseren Familien und Freunden, unseren Kindern und Enkeln, Gesprächen über das Leben, Werte, Sinn, Gott, Erlösung und Heiligkeit und die Einzigartigkeit des jüdischen Volks.

Wir könnten über unsere Geschichte nachdenken, über die uns von Gott geschenkten Gaben und die Herausforderungen, denen wir in jeder Generation gegenüber stehen. Wir könnten unseren Platz in der Geschichte verstehen, warum unsere Feinde auf ihrem Hass beharren, und wie man sie überwinden kann, wie wir es immer gemacht haben. Wir können darüber sprechen, was Gott von uns will, nachdem er uns nach einem langen Exil in das uns verheißene Land zurückgebracht hat.

Wenn wir das machen – und wir können es und sollten es – dann wird uns gelehrt, dass wir „auf der Stelle gerettet“ wären, mit allem, was das für unsere derzeitige missliche Lage mit sich bringt. Wenn wir diese Erklärung, die die Juden fast zwei Jahrtausende gequält haben, auf die Probe stellen würden! Zwei Sabbate, die von jedem Juden in Israel komplett eingehalten werden, mit der einzigen Ausnahme des Sicherheitsapparats und anderer unerlässlicher  Dienste (z.B. medizinischen), die ebenfalls den Sabbat einhalten, allerdings auf andere Weise. Was wäre das für eine einende und erhebende Erfahrung – und sie erfordert, dass jeder Jude mitmacht.

Schließt „jeder Preis“ etwas ein, das tatsächlich funktionieren könnte und das unsere Gesellschaft zum Besseren verändern könnte? Oder geht es nur um Zugeständnisse, die uns weniger sicher machen? Oder begnügen wir uns damit, uns nur auf leere Gesten einzulassen?

Wir leben in ernsten Zeiten. Lasst die Organisatoren ans Werk gehen. Wir sollten es versuchen – und ich wage zu sagen, wir sollten es JETZT versuchen.

Rabbi Steven Pruzansky, Esq. war Kanzelrabbiner und Anwalt in den Vereinigten Staaten und lebt heute in Israel, wo er als Vizepräsident der Region Israel der Koalition für jüdische Werte und leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter des Jerusalem Center for Applied Policy fungiert.

Avinu ScheBaschamayin

In Reaktion auf den 7. Oktober schlossen sich die 3 bekanntesten jüdischen Acapella-Gruppen der USA zusammen und nahmen eine musikalische Version des von Avinu ScheBaschamyin auf, Unser Gott im Himmel – ein Gebet, das als Gebet um das Wohlergehen des Staates Israel bekannt geworden ist und am Sabbat und anderen Feiertagen in vielen Synagogen gespochen wird. Es wurde 1948 von den Oberrabbinern Israels mit Unterstützung des Dichters und späteren Nobelpreisträgers S. Y. Agnon geschrieben und in der israelischen Zeitung HaTzofe veröffentlicht. Die Melodie wurde vom jüdisch-amerikanischen Kantor Sol Zim komponiert.

„Wenn Worte versagen, wie es bei den Ereignissen der letzten Wochen oft der Fall war, wenden wir uns Liedern und Gebet zu“, schreiben die Sänger zu dem Video.

Mit den mit diesem Lied gesammelten Spenden werden Krankenhäuser und Rettungskräfte und Reha-Maßnahmen sowie Evakuierte unterstützt.

Tief im Gazastreifen singen Soldaten ein Gebet zur Freilassung der Geiseln

Ein Gebet, das „unseren Brüdern … die weiter in Bedrängnis und Gefangenschaft sind“ gewidmet ist, hat die jüdische Nation seit dem neunten Jahrhundert begleitet. Es wurde im Ersten Weltkrieg gesungen, auf chassidischen Festen und gerade erst bei einer spontanen Versammlung von Soldaten in einem abgedunkelten Haus in Gaza, nachdem sie zwei ihrer geliebten Kommandeure verloren hatten.

Daniel Lipson, the Librarians, 15. Februar 2024

„Unseren Brüdern, dem gesamten Haus Israel, die weiter in Bedrängnis und Gefangenschaft sind, ob auf See oder an Land: Möge Gott Erbarmen mit ihnen haben und sie aus der Bedrängnis zur Befreiung bringen, aus der Dunkelheit ins Licht, aus Knechtschaft zu Erlösung, zum jetzigen Zeitpunkt, zügig, sehr bald; und lasst uns sagen: Amen.“

Die Kämpfe in Jebaliya waren in der Woche schwer. Am Donnerstag, 26. Dezember 2023, verlor das 931. Bataillon der Nahal-Brigade ihren geliebten Kompanie-Kommandeur Major Schai Schimriz, sowie seinen guten Freund, Hauptmann Schauli Greenglick. Weitere Soldaten wurden verwundet.

Vier Tage später, am Ende eines weiteren erschöpfenden Tages Kampf gegen Hamas-Terroristen versammelten sich Soldaten des 2. Zugs der Schützenkompanie in einem der Häuser im Viertel.

Die Soldaten, Schüler der Schirat Mosche Hesder-Jeschiwa und der HoKotel-Jeschiwa in der Altstadt Jerusalems, packten aus, was sie an Snacks und Süßigkeiten übrig hatten und saßen m Dunkeln (der Strom ist Gazastreifen weitgehend ausgeschaltet) für ein improvisiertes Melaveh Malkah zusammen – der Mahlzeit, die traditionell nach dem Ende des Sabbat eingenommen wird.

In dem dunklen, beengten Haus teilten sie Thora-Lektionen und sangen, wie sie es immer taten – in besseren Zeiten in ihren Jeschiwas. Eines der Lieder, das neuerdings besonders passend und bewegend geworden ist, war Acheinu Kol Beit Yisrael (Unsere Brüder, das gesamte Haus Israel“) – ein Gebet um die Freilassung der Gefangenen und Geiseln.

Haschta Ba’agala Ubisman Kariv – Venomar Amen

Die Melodie für das Lied wurde irgendwann Ende der 1980-er Jahre von Abie Rothenberg komponiert, einem der großen chassidischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Das Lied, das Rothenberg ursprünglich selbst sang, wurde 1990 als Teil eines Tonbandes mit dem Titel Lev VeNefesch („Herz und Seele“) produziert. Auf seinem Album von 1997, Bitchu be-Haschem („Vertrau auf Gott“) veröffentlichte der Sänger Dedi Graucher eine neue Version des Liedes. Graucher verstarb letzten September.

Das Lied ist seitdem unglaublich populär geworden und auf viele Weisen überarbeitet worden; eine der jüngsten und am meisten gehörten Versionen ist die von Lior Narkis vom Oktober 2023.

Das Gebet selbst wird in aschkenasischen Gemeinden an Montagen und Donnerstagen sofort nach der Thora-Lesung gesprochen. Erst werden die vier Bitten des Yehi ratzon („Möge es Sein Wille sein“) gesprochen, gefolgt von Acheinu. Mitglieder sephardisch-jüdischer Gemeinden sprechen die Yehi ratzon-Bitten als Teil des Sabbat-Segens des neuen Monats, wenn der in die folgende Woche fällt, aber ohne den angehängten Acheinu-Abschnitt.

Das Acheinu-Gebet entstammt dem Siddur von Rav Amram Gaon. Im neunten Jahrhundert n.Chr. und auf Ersuchen der jüdischen Gemeinschaft Spaniens schickte Rav Amram Gaon von Babylon die Reihenfolge der Gebete in bearbeiteter und organisierter Form, damit die Gemeinschaft sie verwenden konnte. In dem Siddur bespricht Rav Amram Gaon das Sprechen von Yehi ratzon und Acheinu als Teil der Thoralesung am Montag und Donnerstag jeder Woche und auch am ersten Tag des hebräischen Monats. Die Formeln dort unterscheiden sich leicht von unserer aktuellen Version.

Das Acheinu-Gebet, sephardisch-jüdisches Manuskript , 14/15. Jahrhundert, British Library

Im Machzor Vitry, einem wichtigen Buch über jüdisches Recht und Gebetsbräuche des 12. Jahrhunderts, erscheint Acheinu im Nachmittagsgebet Mincha am Sabbat. Professor Aharon Kellerman hielt in seinem Artikel über die Entwicklung des Brauchs fest, dass gedruckte aschekansische Siddurim das Acheinu-Gebet erstmals in der Ausgabe von Krakau 1578 enthielten. 1646 erschien es in einem in Amsterdam gedruckten Siddur.

Das erste sephardische Siddur, das die Yehi ratzon-Gebete druckte wurde 1739 in Istanbul in einem Abschnitt veröffentlicht, der die Gebete für den Sabbat enthielt, wenn er auf den Monatsersten fällt. In diesem Siddur, wie in allen sephardischen Siddurim bis heute, kommt das Acheinu-Gebet nicht vor.

Wenn ein Gebet zu populärer Musik wird

Generationen lang sollten Juden oft gefangengenommen werden, von Piraten, Straßenräubern und anderen; und manchmal mussten sie für hohe Summen freigekauft werden. Jüdische Gemeinden arbeiteten hart, um die Gebote Gefangene auszulösen zu erfüllen und manchmal schafften sie es ihre Brüder und Schwestern zu ihren Familien zurückzuholen. Doch in manchen Fällen gab es keine Spur von den Gefangenen und denjenigen, die sie verschleppt hatten und alles, was blieb, war für ihr Wohlergehen zu beten. Die Worte des Acheinu-Gebets, die wir kennen, sind Teil von chazannut (jüdischer Kantorengesang) des berühmten jüdischen Kantors Yossele Rosenblatt (1882-1933). Zwei Jahre nachdem er aus Europa kommend in den USA ankam, brach der Erste Weltkrieg aus. Der Krieg und das Leiden seiner jüdischen Geschwister beeinflussten ihn und seine Kunst. In dieser Zeit vertonte er Acheinu und andere Gebete im Wunsch den Schmerz des jüdischen Volks zum Ausdruck zu bringen. Dieses Lied begeisterte zusammen mit anderen die Massen, die zu seinen Konzerten strömten – zuerst in New York, dann überall in den Vereinigten Staaten und Europa.

Werbung von Forward für Yossele Rosenblatts Auftritt am 7. März 1929, bei dem er unter anderen Gebeten auch Acheinu sang

Das Gebet ist seitdem noch mehrfach vertont worden, sowohl als Gesang für Kantorten als auch in allgemeinen chassidischen Liedern. Eine dieser Versionen wurde beim Neunten Chassidischen Liederfest 1977 von einem jungen Sänger namens Riki Gal aufgeführt, der später als israelischer Popstar berühmt werden sollte.

Eine persönliche Anmerkung: Im Schatten dieses abgedunkelten Hauses im Gazastreifen saß auch mein eigener Sohn, ein Gruppenführer der Nahal-Brigade. Er und seine Soldaten dachten sicher über die Bedeutung der Worte und die Gründe nach, warum dieses Lied nach der Verschleppung von rund 240 Israelis am 7. Oktober zu einem der Symbole des Krieges geworden sind.

Wir alle beten, dass „Gott ihnen gnädig ist“ und dass wir es verdienen, dass sie bald zusammen mit den Soldaten, die ihr Leben für das Volk Israel einsetzen, nach Hause kommen – haschta ba’agala ibizman kariv („schnell, sehr bald“).

Das Judentum hat eine einzigartige Verbindung zum Land Israel

First One Through, 28. Dezember 2023

In der lohnenswerten Debatte zum israelisch-arabischen Konflikt gibt es viel Dummheit, Ignoranz und Desinformation. Es ist gut und angemessen die besten Möglichkeiten zum Umgang mit dem Konflikt zu diskutieren, aber eine solche Diskussion sollte auf grundlegenden Wahrheiten beruhen.

Was die Juden betrifft, so ist ein Schlüssel sich daran zu erinnern, dass das Judentum; anders als das Christentum und der Islam, als eine bestimmte lokale Stammesreligion konzipiert wurde und das auch bleibt.

Christentum und Islam sind globale, universalistische Religionen. Sie verbreiteten ihr Evangelium durch Wort und Schwert, konvertierten überall Menschen. Jede der beiden strebte an die Seelen von Menschen zu retten, dachte sich nichts dabei Ungläubige und Abgefallene zu töten. Die Welt, wie wir sie heute kennen, ist eine Folge christlicher und muslimischer Kreuzzüge, Invasionen und Kolonisierunganstrengungen.

Länder mit religiöser Mehrheit
Juden sind nur in Israel in der Mehrheit

Das Judentum hat keine solchen Ziele Der jüdische Glaube ist an das verheißene Land gebunden, das Land Israel. Im Zeitalter vor Flugzeugen, Zügen und Automobilen wurde den Juden in der Bibel geboten dreimal jedes Jahr Jerusalem zu besuchen, was von jedem Juden forderte im Land zu leben (in scharfem Gegensatz zu Muslimen, die Mekka einmal in ihrem ganzen Leben zu besuchen, sollen, weil sie auch woanders leben).

Juden haben eine Diaspora; das ist überall außerhalb des Landes Israel. Christen und Muslime haben ein solches Konzept nicht.

Juden glauben, dass friedliche Nichtjuden in den Himmel kommen können und betreiben daher keine energischen Konversionen. Diesbezüglich sind sie einzigartig, Menschen oder andere Religionen werden nicht vorverurteilt, was den Status ihrer Seelen angeht.

Auf dem Hauptplatz von Lissabon verbrennen Christen während der Inquisition „Häretiker“ auf dem Scheiterhaufen.

Das ist ein wichtiger Grund, dass es in der Welt so wenige Juden gibt, obwohl es das Judentum weit länger gibt (3.500 Jahre) als den Islam (1.400 Jahre) oder das Christentum (2.000 Jahre). Die besondere Natur des Glaubens hat die Zahl klein gehalten, außerdem waren sie Opfer von Massakern, die von den universalistischen Religionen begangen wurden.

Weltreligionen
Juden stellen weniger als 0,25%

Es gibt biblische Gebote, die können bis heute nur im Land Israel eingehalten werden. Jüdische Landwirtschaft muss innerhalb der Grenzen Israels besondere Gesetze einhalten, die für die Landwirtschaft in der Diaspora nicht gelten, so die Schmitta, das Land alle sieben Jahre brachliegen zu lassen.

Schild auf einem Stück Ackerland in Zentralisrael, wo die Bauern 2015 die Schmitta einhielten (Foto: First One Through)

Die Stammesnatur der Juden hat sie Jahrhunderte lang zu einer Quelle für Argwohn gemacht. Die Menschen NICHT bekehren zu wollen, wurde als elitär betrachtet (obwohl das Judentum glaubt, dass Leute mit anderer Religion nicht verdammt sind). Egal, ob sie religiös oder säkular sind, in Israel oder in der Diaspora leben, die Menschen betrachteten den Rest der Juden, die die Pogrome, Völkermorde, Vertreibungen und Kreuzzüge überlebten, als sturen Haufen.

Juden, Judentum und Israel: Überschneidungspunkte von Volk, Religion, Land

Juden ziehen nicht einfach wegen der Geschichte und dem Erbe ins Land Israel; das ist der Grund, weshalb die palästinensischen Araber, deren Großeltern einst im Land lebten, dorthin ziehen wollen.

Juden sind auf eine Weise eng mit dem schmalen Streifen Land verbunden, die in anderen Religionen keine Parallelen hat. Das hat zu interessanten Bevölkerungsstatistiken im Land geführt:

  • Unter den Osmanen zogen von 1800 bis 1914 mehr Juden als Muslime nach Palästina/ins Land Israel. Und unter den Briten zogen von 1922 bis 1948 mehr Muslime ins Land als Juden. [Anmerkung d.Übers.: Das lag aber vor allem daran, dass die Briten den Zuzug von Juden enorm beschränkten]
  • Die Juden sind in Jerusalem seit 1867 die größte Religionsgruppe gewesen.

Darüber hinaus ist die jüdische Nationalhymne im Nahen Osten die älteste und die einzige Nationalhymne der Welt, die sich auf ihre Hauptstadt fokussiert, Jerusalem.

Nationalhymnen im Nahen Osten: Das Jahr, in dem sie verfasst wurden

Das jüdische Heimatland ist das Land Israel und seine Diaspora ist die Welt außerhalb dieses Landes. Keine andere Religion hat ein solches Konzept von Heimatland und Diaspora.

Die Hinrichtung von Ades 1948 war der Auslöser dafür, dass irakische Juden schnell das Land verlassen wollten

Bataween, Point of No Return, 18. September 2023

Am 75. Jahrestag der Hinrichtung von Schafiq Ades (Adas), dem jüdischen Geschäftsmann, der im Irak aufgrund erfundener Vorwürfe der Spionage für Israel, hielt Nimrod Raphaeli, der die Ereignisse als Teenager erlebte, den folgenden Vortrag in der Gemeinde Bene Naharayim in New York. Der Vortrag vermittelt ein starkes Gefühl dafür, dass dem politische Umfeld nicht daran gelegen war die Juden zu schützen, sondern eine grausame Kampagne gegen sie führte (mit Dank am Sami)

Dr. Nimrod Raphael (links) und Shafiq Adas

Der Prozess und die Hinrichtung von Schafiq Adas sind gut dokumentiert. Ich versuche heute ein Licht auf das politische Umfeld zu werfen, das im Land vorherrschte und zu Schafiq Adas‘ tragischem Ende führte.

Für mich ist die Situation keine abstrakte Geschichte.

Erst einmal habe ich diese Ereignisse durchlebt. Die Ereignisse, die ich beschreibe, ereigneten sich, als ich ein 15 oder 16 Jahre alter in Basra lebender Teenager war.

Zweitens war er zwar nicht mein Freund, aber ich sah Schafiq Adas sehr oft. Ischaq Zbulun, der Ehemann meiner Cousine, war Adas‘ rechte Hand und saß neben ihm im Büro des Autohandels. Er sprach ihn immer als Abu Zaki an.

Die Brüder Adas, Ibrahim und Schafiq, waren die einzigen Vertreter der Ford Motor Co. sowie einiger weiterer Firmen wie der französischen Reifenfirma Michelin. Ironischerweise waren zwei andere jüdische Brüder, Khduri und Ezra Meer Lawy, die einzigen Vertreter von General Motors.

Die Regierung des Irak rief nur Stunden vor der Gründung Israels das Kriegsrecht aus. Der Grund für das Kriegsrecht war angeblich den Rückraum der irakischen Armee-Einheiten zu schützen, die sich am Krieg gegen den neuen Staat Israel beteiligten.

Anfangs hatten die Juden das Gefühl, das Kriegsrecht würde ihnen ausreichend Sicherheit bieten und den Mob davon abhalten ihnen Schaden zuzufügen, wie es 1941 der Fall war, als eine pro-Nazi-Regierung Gewalt gegen die jüdische Gemeinschaft anzettelte, eine tat, die allgemein als Farhoud bezeichnet wird. Das Kriegsrecht schuf vier Militärtribunale, eines in Basra, die den Auftrag hatten sogenannte „Spione, Hochverräter und Kommunisten“ abzuurteilen. Aber die jüdische Gemeinschaft überall im Irak entdeckte bald, dass das Kriegsrecht nicht, wie es die Regierung verkündete, dafür da war den Rückraum der irakischen Armee zu schützen, sondern die jüdische Gemeinschaft zu schikanieren und zu bestrafen, insbesondere angesichts der dürftigen Leistung der irakischen Armee in Palästina, wo sie Teil der Koalition aus fünf arabischen Armeen war, die zusammengekommen waren den entstehenden Staat zu vernichten.

Lassen Sie mich hier eine kleine Anekdote einfügen. Nachdem sie von den neuen israelischen Streitkräften gewaltig vermöbelt wurden, setzten die irakischen Streitkräfte alle militärischen Handlungen aus und lagerten in einem sichere Bereich. Als an den Kommandanten der irakischen Streitkräfte appelliert wurde, zur Rettung der palästinensischen Kräfte zu Hilfe zu kommen, die gegen die jüdischen Kräfte kämpften, gab der irakische Kommandant aus, was Teil der arabischen militärischen Überlieferung zum Krieg von 1948 geworden ist: ماكو اوامر

Für die jüdische Gemeinschaft im Irak war das Leben zunehmend trügerisch geworden. Ein dramatisches Beispiel: 1948 hatte das Land einen nationalen Radiosender. Zahlreiche Male am Tag strahlte das Radio diesen Anfeuerungsruf aus:

تل ابيب تل ابيب سوف تصلى باللهيب واليهود اليهود سوف يكونونَ الوقود: Tel Aviv, Tel Aviv wird von Flammen geröstet und die Juden, die Juden werden der Brennstoff sein.

Es war nicht nur der Radiosender. Auch Zeitungen veröffentlichten boshafte judenfeindliche Geschichten, in denen sie beschuldigt wurden eine Fünfte Kolonne des zionistischen Gebildes zu sein. Aus irgendeinem Grund wurde Adas für die Anschuldigung ausgewählt.

Die Partei Istiqlal demonstrierte mit Unterstützung von Verteidigungsminister Sadiq al-Bassam in Bagdad und Basra und forderte die Hinrichtung von Adas. Das Sprachrohr der Partei war die ultranationalistische Zeitung al-Istiqlal [Unabhängigkeit] unter ihrem Chefredakteur Fa’iq al-Samara’i, der einen boshafte Kampagne gegen die irakische jüdische Gemeinschaft und gegen Adas führte. Insbesondere gehörte Al-Samara’i in den 1930-er Jahren dem Club al-Muthana an, der weitgehend aus dem Nationalsozialismus zugeneigten Offizieren des Militärs und politischen Persönlichkeiten bestand, die aktiv hinter dem Farhoud steckten.

Das Land war überschwemmt mit Parolen wie انقاذ فلسطين (Rettet Palästina)

Von Kaufleuten, insbesondere Juden, wurde verlangt größere Beiträge zur Rettung Palästinas zu leisten. Laut Zbulun, dem Ehemann meiner Kusine, leistete Adas selbst einen großen Beitrag.

Der Prozess gegen Adas und die Umstände rund um das Verfahren sind von Irakern in ihren Schriften berichtet worden. Ein solches Buch, zweibändig, ist لمحات من تاريخ يهود العراق („Flüchtige Blicke aus der Geschichte der Juden im Irak 859 v.Chr. bis 1973) von Nabil Abdul Amir al-Raubai’i (2016), das ich mit freundlicher Genehmigung eines früheren Generals der Armee von Saddam erhalten habe.

Gegen Adas wurde vor einem Militärtribunal unter dem Vorsitz von العقيد الركن (Oberst Abdullah al-Na’sani) wegen angeblicher Waffenverkäufe an die Zionisten verhandelt. In Wahrheit verkaufte er Altmetall und der Verkauf erfolgte in Partnerschaft mit muslimischen Händlern. Es wurden Zeugen herbeigeschafft, die nach dem Schwur auf den Koran angaben, dass Adas schuldig war. Drei bekannte muslimische Anwälte kamen als Verteidiger aus Basra, aber al-Na’sani erlaubte ihnen nicht einen der sogenannten Zeugen ins Kreuzverhör zu  nehmen. Al-Na’sani informierte die Anwälte auch, dass er keine Zeugen der Verteidigung zulassen würde.

Der Romanautor Louie Abbas Hamza beschreibt in seinem Stück حامل المضلة (Der Schirmträger) dramatisch die Szene der Hinrichtung durch Hängen. Lassen Sie mich übersetzen und zitieren:

„Das Urteil Adas am 23. September 1948 in Basra zu hängen wurde in den frühen Morgenstunden ausgeführt, was mit seinem 48. Geburtstag zusammenfiel. Der kühle frühe Morgen oder die Dunkelheit des Ortes oder der schauer des Galgens haben tausende Menschen aus Basra nicht davon abgehalten sich zu versammeln, einige schon am Abend zuvor, dem Ereignis zuzusehen und es zu feiern.

Tatsächlich wurde Adas nicht nur einmal, sondern zweimal gehenkt. Der für das Ereignis zuständige Arzt behauptete nach dem ersten Henken, Adas‘ Herz schlage noch und drei Polizisten mussten ihn zu einem zweiten  Henken hochgehoben werden. Das irakische Strafgesetzbuch schreibt vor, dass das Henken bis zum Tod erfolgen muss (شنقا حتى الموت).

Der Romanautor fährt damit fort, dass der Augenblick des Todes schmerzhaft war, weil diese zwei die beiden Partner von Adas in erster Linie Muslime waren, aber „Adas die Preise für diesen Handel zahlte und seine Partner zu Zeugen gegen ihm  wurden, statt angeklagt zu werden“.

Gehenkt wurde er vor einem Haus, das er baute. Zeitungen behaupteten damals, dass das die Botschaft Israels hatte werden sollen (warum in Basra?)

Von der britischen Regierung 30 Jahre nach dem Ereignis freigegebene Dokumente zeigen, dass der britische Botschafter im Irak, Sir Henry Mack, am 20. September 1948 an das Außenministerium in London schrieb, er habe sich mit Premierminister Mezahim al-Pachachi getroffen und ihm gesagt, dass das britische System gegen das Henken eines Unschuldigen sei. Al-Pachachi antwortete: „die Sache war in den Händen des Regenten und der Regen ist zwar gegen Henken, aber er glaubt, dass die nationalen Interessen ihm keine andere Wahl ließen.“ Genauso schrieb der US-Botschafter im Irak, George Worth, ans Außenministerium über sein Treffen mit dem Regenten, der ihm sagte, er könne nichts anderes tun als das Urteil zu genehmigen. Der Regent stand unter dem Druck der Armee und politischer Schlüsselakteure, dass das Urteil nicht zu genehmigen die Zukunft des Königreichs gefährden würde.

Al-Na’sani selbst hat seine eigene Version der Ereignisse. Laut einem Autor sagte Al-Na’sani einem Kreis von Juden, zu denen er Beziehungen hatte: „Ich habe Adas zum Tode verurteilt, weil ich mir bewusst war, dass das irakische Volk ein Opfer haben wollte. Wäre Adas nicht gehenkt worden, hätten sie Pogrome gegen die Juden im Irak verübt, als Rache für die vielen irakischen Soldaten, die im Krieg starben. Mit der Hinrichtung von Adas habe ich die Juden vor Massakern bewahrt.“ Das mag ein Funken Wahrheit beinhalten.

Viele Jahre später schrieb Jabbar Jamal al-Din, Professor an der Universität Najf eine schöne Trauerrede:

„Er [Adas] ist einer derer, die Rosen im Frühlingsgarten pflanzt.“ Nach dieser poetischen Einleitung schreibt Jamal al-Din:

„Adas war unter den Händlern des Irak ein ehrbarer Geschäftsmann. Es ging ihm nicht um Gewinn oder Verlust, sondern vielmehr darum den Unterdrückten zu dienen und den Benachteiligten Erleichterung zu schaffen.“

Entnationalisierung (تسقيط): Die Hinrichtung von Adas hatte einen dramatischen Einfluss auf die jüdische Gemeinschaft des Irak und ironischerweise und tragischerweise bot den Auslöser dafür, dass sie schnell weg wollten.

Meir Basri, ein Autor und Historiker und der letzte Präsident der jüdischen Gemeinschaft im Irak hielt etwas Wichtiges fest. In seinem biografischen Buch, das von Fatten Muhsin über ihn schrieb und den Titel سيرة وتراث („Leben, Geschichte und  Erbe“) trug, wird er damit zitiert, dass der Prozess gegen und die Hinrichtung von Adas deutlich demonstrierte, dass selbst dann, wenn ein Jude aus einer höchst angesehenen Familie stammte [gemeint ist Adas] und der voll in die irakische Gesellschaft integriert ist, nicht vor Strafe sicher ist. Die Juden hatten eindeutig keine Zukunft im Land.

In weniger als zwei Jahren nach der Hinrichtung von Adas verabschiedete das irakische Parlament ohne Beratung am 6. März 1950 ein Gesetz, das der Regierung erlaubt jedem Juden die irakische Staatsbürgerschaft abzuerkennen oder ihn zu entnationalisieren (tasqit), der das Land verlassen wollte. Diejenigen von uns, die sich dafür entschieden wegzugehen, erhielten ein laissez passer mit der Erklärung „اسقطت عنه الجنسية العراقية ولن يسمح له الدخول الى العراق مطلقا“: Die irakische Staatsbürgerschaft ist aberkannt und eine Einreise in den Irak wird niemals gestattet.


Mehr zu Schafik Ades finden Sie hier und hier.